Never confuse faith, or belief – of any kind – with something even remotely intellectual.

John Irving, A Prayer for Owen Meany (1989)

Sich. Und andere?

5 Minuten Lesedauer
Stilisierte Symbolbilder im Emoji-Stil mit vier verschiedenen Gesichtern in unterschiedlichen Hautfarben, die alle eine Atemschutzmaske tragen.
Graphik: visuals via Unsplash.

Na, wer erinnert sich noch an damals, als die Seuche kam? Über vier Jahre ist das her — Kinder, wie die Zeit vergeht! — und ein sehr gutes Beispiel dafür, wie Menschen kurzfri­stig aus Angst und anderen egoi­stischen Motiven imstande sind, sich vernünftig zu verhalten. Langfri­stig aber, und aus Altruismus? Fehlanzeige.

So bald sie durften, rissen sich die mei­sten die ach, so lä­stigen Masken vom Gesicht, aßen endlich wieder auswärts, gingen wieder, natürlich maskenlos, ins Kino, in Konzerte, in Vorträge, in Versammlungen, schließlich dann sogar in Arztpraxen und Krankenhäuser.

Jenen Teil der Botschaft, in dem es hieß, dass man sich und andere mit der Maske schütze, den haben sie überlesen, überhört, übersehen, ignoriert.

Person mit einer Ela­stomer-Atemschutzmaske, die fast das gesamte Gesicht bedeckt. Darüber trägt die Person zusätzlich eine Brille.
Photo: Matt Koffel via Unsplash.

Risikopersonen, die eine Infektion unbedingt vermeiden müssen, sind seitdem noch einsamer, als sie vielleicht vorher schon waren. Sie können nicht mehr einkaufen, zur Ärzt*in, ins Krankenhaus gehen, ohne sich mit Masken zu schützen, die an apokalyptische Filme erinnern. (Auch wenn manche viel Kreativität und Geduld aufwenden, solche Masken außerordentlich originell und schön zu verzieren.)

Trügen einfach alle weiterhin reguläre FFP-2-Masken, wenn sie in geschlossene Räume mit anderen Menschen gehen (medizinische und therapeutische Praxen und Hospitäler, Einkaufszentren und Supermärkte …), dann wäre es jenen Menschen, die ein erhöhtes Risiko haben – und das sind nicht wenige, dazu gleich mehr – auch weiterhin möglich, ein relativ normales Leben zu leben.

So wie sich die Lage momentan darstellt, hindert sie der Rest der Menschheit daran.

Das ist aus minde­stens zwei Gründen falsch.

1. Ebenso wie Rassismus, Klassismus und Sexismus gehört auch Ableismus zu den -ismen, die in einer modernen Gesellschaft nichts zu suchen haben. Leute, denen es gut geht, mental und physisch, neigen leider sehr dazu, jene vielen anderen zu vergessen, deren Leib oder Seele (oder beide) unter Einschränkungen leiden.

Aber ebenso, wie es mittlerweile an (immer noch nicht allen, aber immerhin) vielen Orten Zugangsmöglichkeiten für Rollstuhlfahrer*innen gibt, Gebärdensprache für im Hören Eingeschränkte, oder auch beschreibenden ALT-Text zu Internet-Bildern, der Menschen mit eingeschränktem Gesichtssinn von Screenreadern vorgelesen wird (um nur einige Beispiele zu nennen) – ganz genau so muss auch Immungeschwächten, an Herzschwäche Leidenden, Menschen mit einer neurologischen Erkrankung, Diabetes, anderen chronischen Erkrankungen die »Teilhabe«, wie es immer so schön heißt, »ermöglicht werden«.

Es gibt keinen einzigen vernünftigen Grund dagegen, in geschlossenen Räumen eine Maske zu tragen. Aber viele Gründe dafür.

Mehrere Personen mit Schutzmasken, die in einem Tischkreis zusammen in einem Raum sitzen.
Photo: Joel Danielson via Unsplash.

2. »Risikopersonen« ist ein irreführender Begriff. Die allermei­sten werden dabei sehr wahrscheinlich an Menschen denken, denen wegen einer Vorerkrankung ein schwerer COVID-Verlauf droht. Die schweren Verläufe sind aber, den in beeindruckender Geschwindkeit (auf der Basis jahrzehntelanger Forschung übrigens) entwickelten Impfstoffen sei Dank, für einen Großteil der Menschen kein Problem mehr.

Nach wie vor sehr problematisch allerdings sind langwierige Folgeerkrankungen wie zum Beispiel Long COVID. Dazu zählen auch all jene gehäuft auftretenden Erscheinungen wie Herz-Kreislauf­pro­bleme bis hin zu Infarkt und Schlaganfall, ein langfri­stig geschwächtes Immunsy­stem, Beeinträchtigungen der Hirnfunktion und zahlreiche andere, alle Organe betreffende COVID-Folgen. Die gemeinerweise sogar nach »leichten Verläufen« oder sogar symptomfreien Infektionen auftreten. Und bei jungen Leuten.

Die Autorin, Ex-taz- und SPIEGEL-Kolumni­stin Margarete Stokowski zum Beispiel ist schon weit über zwei Jahre Long-COVID-Patientin; Mitte März erinnerte sie sich anlässlich des »Long Covid Awareness Day« auf In­stagram an ihr Leben davor. Und in einem anderen Post vom 1. März schrieb sie: Manchmal fragen Leute, was ist, wenn ich trotz der Schwäche irgendwas mache? Kann sein dass es klappt, kann sein dass ich ohnmächtig werde. That’s Long COVID for you.

Und noch eines, was viele »Normalgesunde« nicht wissen: Jede Corona-Infektion addiert sich auf. Mit jedem SARS-CoV-2-Kontakt wird das Risiko größer, selbst als vorher vollkommen gesunde Person eine der vielen Folgeerkrankungen zu bekommen. Dazu gibt es reichlich Studien, die hier nicht alle verlinkt werden können; stellvertretend sei diese in nature veröffentlichte Untersuchung erwähnt. Auf der Seite LINKS dieses Blogs gibt es außerdem reichlich Recherchefutter.

Aber es scheint, als sei das Problem nicht auf COVID-19, ja, nicht einmal auf Gesundheit im allgemeinen beschränkt.

Egoismus ist offenbar hoffähig geworden. Hauptsache, mir und meiner Bubble geht es gut. Die anderen können sehen, wo sie bleiben.

In einem Flüchtlingslager. Auf den Wegen hängt Wäsche zum Trocknen, ein paar Menschen sind unterwegs. Alles wirkt provisorisch, aber trotzdem, als wären die Bewohner schon lange hier.
Photo: Julie Ricard via Unsplash.

Ein Beispiel dafür ist die sogenannte »Flüchtlingsdebatte«. Die genau genommen gar keine Debatte ist, denn allen momentan amtierenden Politikern ist gemeinsam, dass sie die Grenzen nur sehr, sehr bedingt öffnen möchten. Trotz »Fachkräftemangels«, trotz koninuierlichen Rückgangs der Geburtenrate (Deutschlands Bevölkerung hat zwar 2023 deutlich zugelegt, was aber hauptsächlich auf den Zuzug ukrainischer Menschen, die vor dem Angriffskrieg eines Imperiali­sten fliehen mussten, zurückzuführen ist).

Der Kapitalismus mit seiner massiven Propaganda für Konkurrenzdenken hat die den Menschen eigentlich eigene Fähigkeit zur Empathie und Solidarität gründlich ausgemerzt, zumindest in einem Großteil der Bevölkerung. Mit Zuckerbrot (Konsum) und Peitsche (Jobverlust).

Zum Abschluss noch mal kurz zurück zum Eingangsthema. Hier sind zwei dringende Linkempfehlungen zu Jessica Wildfires OK Doomer, englischsprachig: Mild at First: A Brief History of The 1918 Bird Flu Pandemic und We’re Cornered by Bird Flu.

Nach der Pandemie ist nämlich vor der Pandemie. (Und in Wirklichkeit auch gar nicht nach, siehe oben.)

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