Alle Morgen wieder – aufwachen wie Winsor McCays Little Nemo; alle Morgen wieder – die Gedanken noch zerknautschter als das Kissen, noch zerzauselter als das Haupthaar; alle Morgen wieder – im Hinterkopf das nagende Halbbewusstsein: Das wird anstrengend heute, wie gestern auch schon, wie morgen auch wieder, wie immer.
Kein guter Tagesbeginn, stimmt’s?
Aber wenn auch vielleicht ein kleines bisschen übertrieben, ist es doch ungefähr das, was viele Menschen im wohlhabenden Westen empfinden. Tag für Tag.
Nicht die tatsächlich Wohlhabenden natürlich, die es sich im mittleren und gehobenen Management, an der Firmenspitze oder gleich in der geerbten Villa gemütlich gemacht haben. Aber doch all die Millionen, die from paycheck to paycheck
leben, wie es auf Englisch heißt, oder von der Hand in den Mund
.
Jetzt schätzen Sie mal: Wie viele sind das wohl so, hier, im reichen Deutschland?
Na?
Im Jahr 2022 waren laut Erstergebnissen des Mikrozensus insgesamt 20,9 Prozent der Bevölkerung in Deutschland von Armut oder sozialer Ausgrenzung betroffen
, heißt es auf der Website von Statista.
20,9 %.
Ein Fünftel aller Deutschen, jede fünfte Person.
Zählen Sie mal durch im Supermarkt. Eins, zwei, drei, vier – und stop, diese Person ist arm, armutsgefährdet oder sozial ausgegrenzt, muss sich also überlegen, ob sie sich tatsächlich heute frisches Gemüse leisten kann, oder ob nicht der Rest Toastbrot auch irgendwie reicht.
Und weiter; sechs, sieben, acht, neun – da ist wieder eine. Auch dieses menschliche Wesen muss auf Teile seiner Menschenwürde verzichten, einfach nur deshalb, weil es mit dem Wohlstand der anderen nicht mithalten kann, aus welchen Gründen auch immer.
Bei Kindern und Jugendlichen müssen Sie übrigens nur bis vier zählen; von ihnen sind fast 25 % arm(utsgefährdet). Relativ gering ist der Unterschied zwischen Männern (20,1 %) und Frauen (21,6 %).
Noch zwei letzte Zahlen: Im vergangenen Jahr hatte Deutschland rund 84,5 Millionen Einwohner. Ein Fünftel davon sind 16,9 Millionen.
Gut, dass im WERNERPRISE°-Blog (so gut wie) keine Schimpfwörter und Kraftausdrücke verwendet werden, sonst stünde hier gleich eine ganze Reihe von ihnen; viele direkt an den amtierenden Finanzminister Christian Lindner gerichtet, der sich eines geschätzten Vermögens von 5,5 Millionen Euro und dazu eines monatlichen Ministergehalts von 20 000 Euro erfreut und allein im Jahr 2021 beim Finanzamt außerdem zusätzliche Nebeneinkünfte von 472 000 Euro angemeldet hat.
Wie heißt das Sprichwort doch so schön: Der Teufel scheißt immer auf den größten Haufen.
Kein Wunder, dass so jemand das Elterngeld kürzen will, die Zuschüsse zur gesetzlichen Renten- und Pflegeversicherung und auch die Mittel der Bundeszentrale für politische Bildung – aber weiterhin rund 65 Milliarden Euro pro Jahr für umwelt- und klimaschädliche Subventionen freigibt, wie das ZDF berichtete.
Kein Wunder auch, dass so jemand sich im staatsgläubigen
Deutschland nicht wohl fühlt, wie er sich bei einer Rede vor dem Institut für Schweizer Wirtschaftspolitik beklagte. In Richtung seiner Gastgeber sagte der Multimillionär: (…) nachdem die politischen Realitäten mich zwingen, mit Sozialdemokraten und Grünen zu regieren, freue ich mich, die Luft der Freiheit zu atmen.
Ach wissen Sie, Herr Lindner, Sie sind herzlich eingeladen, in der so freiheitlichen Schweiz Ihr Domizil aufzuschlagen. Wir werden Sie hier nicht vermissen.
Zum Ausklang noch ein Link zur ersten »Late Night« von Sarah Bosetti am 22.10., in der es ebenfalls um das Thema Armut ging. Besonders bemerkenswert war der Auftritt der #TaxMeNow-Mitbegründerin und Millionärin Marlene Engelhorn, die überzeugend darlegte, warum Spenden und andere Benefit-Aktionen seitens der Reichen keine Alternative zu öffentlichen Mitteln sind (weil sie der Willkür Tür und Tor öffnen) und warum sie will, dass sie und ihresgleichen endlich angemessen besteuert werden.
Bitte gucken. Die Aufzeichnung steht in der 3sat-Mediathek.
Letztes Jahr demonstrierten Engelhorn und ihre Mitstreiter beim Weltwirtschaftsforum in Davos. Auch das liegt in der Schweiz. Na, Herr Lindner, nicht doch lieber ein Häuschen dort statt im undankbaren Deutschland?