Never confuse faith, or belief – of any kind – with something even remotely intellectual.

John Irving, A Prayer for Owen Meany (1989)

Keine Zeit!

7 Minuten Lesedauer
Ein Salá, wie im Text beschrieben und umgeben von vielen sattgrünen Pflanzen.
Ein Salá, allerdings mit einer aufwendigeren Dachkon­struktion als sonst üblich.
Eigenes Bild. Lizenz: CC BY-SA   

(Dieser Text ist am 7. November 2012 entstanden, unter dem schattenspendenden Bananenblätterdach eines Salá – einer einfachen Hütte mit einem Tischbrett in der Mitte, davor und dahinter sechs [oder mehr, je nachdem, wie gut man sich kennt] Plätzen auf zwei Sitzplanken – in einem kleinen Ort direkt an der Südostkü­ste Thailands.

Anders als sonst in diesem Blog üblich, ist er in der Ich-Perspektive geschrieben. Er ist nicht weitergehend bearbeitet, deswegen sind bei Zeitangaben gut zehn Jahre dazuzurechnen.)


Stilisiertes Zifferblatt einer Uhr.
Eigenes Bild. Lizenz: CC BY-SA   

Mir scheint, dies ist das zentrale Problem unsere(s Teils de)r Welt: Niemand nimmt sich mehr Zeit. Ja, da steht nimmt sich, weil ich fest daran glaube, dass es zum großen (größten!) Teil an uns liegt, wie wir unsere Zeit »managen«.

Die mei­sten wird es vielleicht überraschen, dass unser Zeitverständnis noch gar nicht besonders alt ist; vor etwas mehr als zwei Jahrhunderten lebten die Menschen in Europa noch ohne den ständigen Einfluss der von der Uhr gemessenen Zeit. Sehr interessant dazu ist ein Buch, das ich vor einer Weile gelesen habe: Edward P. Thompson, »Blauer Montag. Über Zeit und Arbeitsdisziplin«, mit einer Einführung von John Holloway; hier ein Ausschnitt aus der Verlagswerbung: Vor gut 200 Jahren wurde im Zuge der Indu­striellen Revolution in England die Zeit zur Uhr-Zeit. Gelebte, an der Natur gemessene Zeit wird zu mit Arbeit oder in Freizeit verbrachter Zeit, zu genutzter oder verschwendeter Zeit. Klingt vertraut, oder?

Ich schreibe dies aus einem Land, in dem die Uhr (immer noch) längst nicht den Einfluss hat, den sie bei uns beansprucht. Okay, das ist Asien, das ist weit weg, hier gehen die Uhren anders. Aber schon in Griechenland, gerade mal zweitausend Kilometer von Deutschland entfernt, halten die Menschen mitten auf der Straße ihre Autos an und beginnen eine Plauderei von Steuer zu Steuer, und bis hinter ihnen mal jemand zu hupen beginnt, vergeht eine ganze Weile. Warum auch? Selbst Deutschland verfügt eigentlich schon über das Handwerkszeug, zum Beispiel gibt es das Sprichwort nichts wird so heiß gegessen, wie es gekocht wird. Allein daran immer mal wieder zu denken, ist schon eine große Hilfe.

Denn neben Gesundheit ist Zeit das wichtig­ste, das wir besitzen. Kein iPad oder »Smart«phone, kein Fernseher, keine schicken Klamotten, kein Auto und keine schöne Wohnung können uns vor dem Vergehen der Zeit schützen, und in Wirklichkeit brauchen wir all das nicht. In Wirklichkeit werden wir, von Werbung, Sozialneid und Gier, dazu getrieben, unsere Zeit einzutauschen gegen Geld, und dieses Geld dann gegen Güter. Wer hat daran ein Interesse – außer denen, die diese Güter herstellen? In Wirklichkeit ist die Uhr das mächtig­ste Werkzeug der Kapitali­­st*innen, die sich immer ungehemmter, drei­ster und radikaler breitmachen in unserer Gesellschaft.

Thompson hat das schon vor 45 Jahren erkannt; hier noch ein Zitat dazu aus dem Klappentext: 1967 stellte E. P. Thompson in seinem Essay dar, dass die veränderte Auffassung der Zeit nicht nur ein Symptom des sich durchsetzenden Kapitalismus ist, sondern ein Schlüsselelement zum Verständnis der modernen Gesellschaft. Von der Organisation und Teilung der Arbeit bis zur durchgeplanten Freizeitgestaltung, alle Strukturen sind von Zeitmessern durchgetaktet. Mit dem Ziel, die Menschen zu unterwerfen, ihnen ihr einziges Gut zu nehmen, über das sie wirklich frei verfügen können, und dieses Gut zu ersetzen durch Tand, glitzernden Schrott, der nach zwei Jahren automatisch in sich zusammenfällt, damit neu gekauft werden muss.

Was können wir tun? Er­­stens vielleicht uns ein Beispiel nehmen an jener noch relativ jungen französischen Bewegung der Décroissance, die auch in der Schweiz immer mehr Anhänger findet und deren Motive simpel sind: Handy abschaffen, Fernseher abschaffen, Auto abschaffen, so wenig wie möglich Ressourcen verbrauchen, nur das Nötig­ste kaufen und so den Teufelskreis aus immer mehr Konsum → immer mehr Wirtschaftswachstum → immer mehr Umweltzerstörung → immer mehr psychologische Schäden → immer mehr Konsum … unterbrechen.

Zweitens können wir uns vielleicht verabschieden von der höchst albernen Vorstellung, eine Lohn-Anstellung könne Lebensinhalt sein oder Erfüllung bieten. Von der selbstzerstörerischen Illusion, wir würden »gebraucht« in »unserer« Firma. (Sobald deine Funktion überflüssig wird oder jemand jüngeres, frischeres, besser ausgebildetes kommt, wirst du entlassen werden.) Und von der Idee, Arbeit sei etwas ehrenvolles, bedeutendes, wichtiges. Lohnarbeit ist immer, ohne Ausnahme, das freiwillige Herausstrecken der Hände zum Anlegen der Handschellen, der freudige Verzicht auf Freiheit und die Überantwortung des Menschen in die Sklaverei. (Ich weiß, an dieser Stelle werden einige murren, aber ich meine es genau so. Jede heutige Firma, sei sie tausende von Mitarbeiter*innen stark oder ein Kleinstbetrieb mit drei Angestellten, muss sich dem kapitali­stischen Gedanken beugen, muss effizient und wachstumsorientiert agieren, muss also gegen grundsätzliche menschliche Interessen handeln. Mögen di*er Chef*in und die Kolleg*innen auch noch so nett sein.)

Die grüne Som-oh ist groß wie ein Kinderkopf und liegt auf einem grünen Sitzkissen mit geometrischem Muster, das wiederum auf einem dunkelbraunen Holzstuhl mit vielen Verzierungen liegt. Eine Brille ist ihr aufgesetzt, so dass sie fast wie ein Gesicht wirkt.
Eine brilletragende Som-oh, in westlichen Sprachen Pomelo.
Eigenes Bild. Lizenz: CC BY-SA   

Und drittens … drittens können wir vielleicht ab und zu einfach mal anhalten. Ein Detail am Straßenrand betrachten. Auf dem Weg von der Mittagspause in den Büchern eines Antiquariats blättern. Spontan einen Extra-Kaffee trinken. Überraschend jemanden besuchen. Heute mal früher Schluss machen (Kopfschmerzen vortäuschen) und ans Wasser fahren. Mit Bus und Bahn oder mit dem Fahrrad, versteht sich. Wasser, überhaupt: Am Wasser sitzen ist die be­ste Quelle für die Stärkung der Seele. Und faulenzen ist der be­ste Nutzen, den wir überhaupt ziehen können aus unserer Zeit.

Vielleicht darf ich noch eins hinzufügen: Ebenfalls eine Illusion ist der Gedanke, Wachstum sei unbegrenzt möglich. Dies ist nämlich der Kerngedanke des Kapitalismus, und wie schon sämtliche Naturwissenschaften erkannt haben (Energieerhaltungssatz), ist er schlicht falsch. Auch das ist aber längst bekannt: 1972, fünf Jahre nach der Erstausgabe von Thompsons Buch, erschien erstmals der Bericht an den Club of Rome mit dem Titel »Die Grenzen des Wachstums (The Limits to Growth)« – nur angesprochen fühlt sich bis heute kaum jemand. Dabei sind wir es alle. Jede*r einzelne in unserem Verhalten und Bewusstsein; dass uns die Politik mit augenwischerischen Maßnahmen wie Pfand, Recycling, Batterierückgabe, Wärmeschutzgesetzen und »Energiewende« (555¹) dabei nicht hilft, weil sie selbst komplett in die kapitali­stischen Strukturen verstrickt ist, sollte niemanden überraschen. Per Gesetz erzwungene Energiesparlampen mit umweltschädigendem Quecksilber oder E10, das wertvollen Boden für die Nahrungsgewinnung unnutzbar macht, sind nur zwei willkürlich ausgewählte aktuelle Beispiele.

¹ Im Thailändischen – das eine Tonsprache ist, in der also die Tonhöhe über die Bedeutung entscheidet – wird die Ziffer fünf wie ein stark betontes »Ha!« gesprochen. Deswegen wird in Thai-Chats oft mit drei Fünfen ein Lachen wiedergegeben.


 

2 Kommentare zu “Keine Zeit!

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