Es ist wahr, Menschen hatten schon immer das Bedürfnis, sich nach außen besser darzustellen, als es im Innern tatsächlich aussah. Was sollen denn die Nachbarn denken
ist einer der vielen Klassiker aus der vordigitalen Zeit, zusammen mit Sonntagsgarderobe
, Zehn Schmink-Tips, mit denen du jeden Boy rumkriegst
und Männer weinen nicht
.
Und es stimmt natürlich nicht, dass ganz plötzlich um 2007 herum Millionen Menschen zu Digitalnarzissten wurden, nur weil sie dank Steve Jobs und Mark Zuckerberg auf einmal in der Lage waren, ihre Selfies zu veritablen Hochglanz-Photos zurechtzufiltern und mit dem gesamten Universum zu teilen (oder immerhin den vierzehn Followern aus der Wilhelm-Raabe-Schule Lüneburg).
Aber was sicherlich zutrifft: Seither ist die Selbstdarstellung von Privatpersonen auf VIP-Maßstäbe angewachsen.
Als hätten alle einen Schnellkurs zum Thema Sei deine eigene Marke
belegt, werden selbst Katzenvideos, Urlaubsphotos und Kochrezepte als Personal Branding behandelt wie umsatzsteigernde Unternehmenskommunikation.
Auch wenn die wenigsten Menschen wohl tatsächlich Influencer, Vlogger, YouTuber werden wollen, ist doch das Bestreben, immer im besten Licht dazustehen, nicht nur auf die im ersten Absatz erwähnten menschlichen Eigenschaften zurückzuführen. Sondern auf das relative neue Phänomen der Instagramisierung, oder auf Englisch Instagramification – was fast noch schöner ist, denn darin steckt auch ein Wortspiel mit Instant Gratification, dem Prinzip der Sofort-Belohnung aus der Psychologie.
Das Problem ist bloß: Instant Gratification funktioniert nur bedingt – und macht schnell süchtig.
Denn Social Media erfüllen nur scheinbar ein Bedürfnis. Das Bedürfnis, geliebt, oder zumindest gemocht, oder wenigstens gehört oder gesehen zu werden. Und zunächst fühlt es sich ja auch irgendwie total gut an, wenn sich Likes, Herzchen, Sternchen, Daumen und »Geteilt«-Zähler unter dem Beitrag ansammeln.
Aber dann … dann kommt uns unsere Hirnchemie in die Quere.
Jedes positive Signal, jedes ❤️, jedes 🔥, 😍, 👍, 💯 und 🤗 ist wie eine kleine Umarmung. Der Dopaminspiegel steigt.
Und je länger wir uns dem aussetzen, je länger andauernd der Dopaminspiegel hochgeregelt wird, desto mehr stellt sich unser Gehirn um. So dass das »High« schließlich zum »neuen Normal« wird. Und das »alte Normal« zu Depressionen führt. In dieser Hinsicht wirkt sich die Nutzung von Social Media auf unser Gehirn ganz genau so aus wie Drogenkonsum, von Alkohol über Marihuana, MDMA und Kokain bis Heroin.
Die Psychiatrie-Professorin Anna Lembke aus Stanford erklärt das in zwei gleichermaßen informativen wie unterhaltsamen Videos sehr viel besser und detaillierter, allerdings auf Englisch:
- In einem Video-Interview¹ mit the weekend UNIVERSITY, und
- bei einem Vortrag² für die Standford Alumni.
Auf der Website der österreichischen Fake-News-Wächter Mimikama (offiziell: Verein mit dem Ziel der Aufklärung über Internetmissbrauch) ist aktuell ein Beitrag zu dem Thema erschienen, in der es heißt: Ohne es zu merken, sind wir in ständiger Alarmbereitschaft, immer auf der Suche nach der nächsten Information, dem nächsten Like, der nächsten Nachricht.
Wie Heroinsüchtige auf der Jagd nach dem nächsten Schuss.
Hinzu kommt die Art, wie die allermeisten Menschen ihre Insta-, TikTok-, Snapchat-, Facebook- (die älteren), Twitter- (die unbeirrbaren) und was sonst noch alles für Kanäle nutzen: Mit dem Smartphone. Das oft, meistens sogar, ausgesprochen handschmeichlerisch gestaltet ist. Berührung ist eine der wichtigsten beziehungsbildenden Maßnahmen, wir streicheln, was oder wen wir gern mögen, und umgekehrt mögen wir gern, was oder wen wir ständig streicheln.
Erst recht, wenn er, sie oder es reagiert – und das tun Smartphones mit einer leichten Vibration, wenn sie betastet werden. Ein kleines digitales Wesen (wer erinnert sich noch ans elendige Tamagotchi?) in der Hosen-, Jacken- oder Handtasche, meistens aber in der Hand; über zweieinhalbtausend mal berühren Menschen ihr Phone täglich, zeigten im vergangenen Jahr Studien aus den USA und Belgien.
Eine aktuelle Untersuchung aus den USA hat ergeben, dass Amerikaner derzeit rund viereinhalb Stunden täglich dem Handy widmen. Vor zwei Jahren waren es unter Deutschen immerhin auch schon fast dreieinhalb, und noch ein Jahr früher meldete ZDNet: 89 % der Deutschen besitzen ein Smartphone, 94 % von ihnen verwenden es täglich – und 31 % verspüren sogar einen Zwang, ständig auf ihr Smartphone zu schauen.
Weil ihr Belohnungssystem rebelliert und Dopamin-Nachschub fordert.
Weil sie hoffen, dass jemand oder etwas ihnen gerade ein bisschen Liebe, oder zumindest Zuneigung, oder wenigstens Anerkennung geschickt hat.
Immerhin, der Anteil jener Konsumenten, die den Umfang ihrer Smartphone-Nutzung kritisch sehen, ist deutlich gestiegen
, heißt es weiter in der damaligen ZDNet-Meldung. Und zunehmend werden negative Begleiterscheinungen wahrgenommen, von Unkonzentriertheit über spätes Einschlafen bis hin zu Kopfschmerzen.
Aber ganz ehrlich: Momentan sieht es noch nicht so aus, als wollten die Betroffenen groß etwas ändern. Und das, obwohl die ständige Bewertung durch andere und der Vergleich mit dem scheinbar perfekten Leben anderer zu erhöhtem Stress führen kann
, wie es in dem oben erwähnten Mimikama-Artikel heißt.
Vielleicht sollten sie sich klar machen, was Professor Andrew Lepp schon 2016 herausgefunden hat: Smartphone-Nutzung [ist] schlecht für die emotionale Nähe.
Lepp erwähnt ein Phänomen, was Wissenschaftler neuerdings problematische Handy-Nutzung nennen. Leute mit solch einer problematischen Nutzung sind jene, die das Handy in Situationen benutzen, in denen man das eigentlich nicht tun sollte. Sie verspüren einen Zwang, das Handy zu nutzen, das ist fast schon Suchtverhalten.
Seine Untersuchung hat festgestellt: Und diese Art der Nutzung hat einen negativen Zusammenhang mit dem Gefühl der emotionalen Nähe.
Menschen, die einen Hang hatten, das Handy problematisch zu nutzen, die fühlten sich auch nicht vertraut mit Eltern oder Freunden.
Je mehr Menschen zu dieser problematischen Nutzung neigen (und, siehe oben, das scheint offensichtlich zuzunehmen), desto schwieriger wird es also mit dem Miteinander.
Gut möglich, dass aus dem Gemenge aus Sucht, Selbstfixierung und Abkehr vom gemeinsamen Austausch das geworden ist, was wir inzwischen als eine deutliche Verhärtung der Fronten zwischen Menschen erleben, als ein Entweder bist du für mich, oder du bist gegen mich! Dazwischen gibt’s keine Grautöne mehr!
Das war hier ja neulich schon mal Thema.
Vielleicht ist es jetzt – ja, in genau diesem Moment! – an der Zeit, das Smartphone wegzulegen und dem Rat des Professors zu folgen, guck den wichtigen Menschen in deinem Leben in die Augen, sprich mit ihnen ohne Bildschirm zwischen euch.
Oder sich eine Stunde Zeit zu nehmen und in aller Ruhe der Professorin für Religionswissenschaft Anne Koch und Wilhelm Schmid, »Philosoph der Lebenskunst«, zuzuhören, die im SRF mit Ahmad Milad Karimi über Berührungen im Alltäglichen wie auch im Metaphysischen sprechen. Schmid zum Beispiel sagt: Das körperliche Sein erfahre ich am instensivsten durch Berührung.
Zwischen Menschen, wohlgemerkt.
¹ ² Beide Videos stammen von YouTube, werden hier aber über Invidious mit dem URL-Parameter local=true
verlinkt, was bedeutet, dass Google und YouTube Sie nicht tracken können.
Da YouTube häufig versucht, Invidious zu blockieren, funktionieren die Links manchmal nicht; dann können Sie eine andere Invidious-Instanz versuchen (für das erste Video hier: redirect.invidious.io/watch?v=t4iGCgIB0bg&local=true, für das zweite hier: redirect.invidious.io/watch?v=n2u8Z1HeKD8&local=true.