Pro-pan-ganda.

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Die Afro-Amerikanerin Erykah Badu trägt ein buntes, indigen anmutendes Stirnband, um ihre vielen Haare zu bändigen, außerdem auffällige, aus größer werdenden Kreisen bestehende Ohrringe und einen Nasenring. Der Bildhintergrund ist orange-braun und mutet ebenfalls indigen an.
Erykah Badu in dem Interview.
Copyright: Fair use.

Erykah Badu zitiert in diesem kurzen Interview-Ausschnitt eine Philosophie, die besagt, dass 85 Prozent der Menschen auf dem Planeten Mitläufer [followers] sind. 10 Prozent der Menschen auf dem Planeten sind Kreative [creatives] oder Anführer [leaders]. Und 5 Prozent der Menschen sind Beobachter [observers]. Letztere werden oft entweder gleich ermordet oder anderweitig zum Schweigen gebracht, weil sie den 10 Prozent ihr Geschäftsmodell verhageln. Und das geht deswegen so einfach, weil die Leute geführt werden wollen.

Woher auch immer diese Philosophie stammt, wie zuverlässig auch immer die Informationen der Sängerin und Musikerin sind, intuitiv zumindest scheint diese Einschätzung leider sehr richtig.

Wer gelenkt wird, muss dieser Lenkung erstmal zustimmen — zumindest unbewusst, ja. Und laut Erykahs Zitat wollen die allermei­sten das auch. Allerdings sind die Lenkungsmethoden schon auch sehr perfide, siehe – als ein sehr deutliches Beispiel – Cambridge Analytica.

Wer die Wirkmacht von Propaganda in Bezug zur Formbarkeit von Menschen setzt, schiebt damit nicht die Verantwortung auf andere ab, sondern benennt die Komplexität zutreffender.

Die AfD ist nicht zuletzt so stark geworden, weil in Deutschland immer noch viele Menschen im Herzen Nazis sind. Trotzdem »hilft« es, dass externe Kräfte Zweifel säen mit Desinformation und Lügen.

Die riesige Ölplattform mit unzähligen stählernen Aufbauten auf vier gewaltigen, orangefarbenen Säulen liegt schräg im Meer.
Die sinkende Ölplattform Thunder Horse, 2005. Quelle: Wikimedia.

Und »externe Kräfte« kann zum Beispiel auch bedeuten: BP/Exxon/Shell, die seit den Siebzigern des vergangenen Jahrhunderts gezielt Fehlinformationen zum Einfluss von CO₂ auf das Klima verbreitet haben. Da gab es schon den Bericht an den Club of Rome, »Die Grenzen des Wachstums«, aber das war halt ein dickes Buch, anstrengend zu lesen. Da hat man lieber der Fossil-Propaganda geglaubt. Und bis heute hält diese Verbreitung von Falschinformationen an, wie dieser (englischsprachige) Kommentar im Magazin Salon belegt.

Ein Fazit könnte sein: Es braucht immer zwei – nämlich Akteure, die lenken, und Menschen, die sich lenken lassen. Er­stere sind aber allermei­stens in einer Machtposition, die sie für ihre Propaganda schamlos ausnutzen. Sie haben, ganz einfach gesagt, das Geld, »alternative Fakten« zu kaufen und zu verbreiten.

Für einen etwas positiveren Ausklang und als P.S.: Erykah hat im August 2018 einen der legendären npr-Tiny-Desk-Gigs performt. Sehr sehens- und hörenswert!

Sich. Und andere?

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Stilisierte Symbolbilder im Emoji-Stil mit vier verschiedenen Gesichtern in unterschiedlichen Hautfarben, die alle eine Atemschutzmaske tragen.
Graphik: visuals via Unsplash.

Na, wer erinnert sich noch an damals, als die Seuche kam? Über vier Jahre ist das her — Kinder, wie die Zeit vergeht! — und ein sehr gutes Beispiel dafür, wie Menschen kurzfri­stig aus Angst und anderen egoi­stischen Motiven imstande sind, sich vernünftig zu verhalten. Langfri­stig aber, und aus Altruismus? Fehlanzeige.

So bald sie durften, rissen sich die mei­sten die ach, so lä­stigen Masken vom Gesicht, aßen endlich wieder auswärts, gingen wieder, natürlich maskenlos, ins Kino, in Konzerte, in Vorträge, in Versammlungen, schließlich dann sogar in Arztpraxen und Krankenhäuser.

Jenen Teil der Botschaft, in dem es hieß, dass man sich und andere mit der Maske schütze, den haben sie überlesen, überhört, übersehen, ignoriert.

Person mit einer Ela­stomer-Atemschutzmaske, die fast das gesamte Gesicht bedeckt. Darüber trägt die Person zusätzlich eine Brille.
Photo: Matt Koffel via Unsplash.

Risikopersonen, die eine Infektion unbedingt vermeiden müssen, sind seitdem noch einsamer, als sie vielleicht vorher schon waren. Sie können nicht mehr einkaufen, zur Ärzt*in, ins Krankenhaus gehen, ohne sich mit Masken zu schützen, die an apokalyptische Filme erinnern. (Auch wenn manche viel Kreativität und Geduld aufwenden, solche Masken außerordentlich originell und schön zu verzieren.)

Trügen einfach alle weiterhin reguläre FFP-2-Masken, wenn sie in geschlossene Räume mit anderen Menschen gehen (medizinische und therapeutische Praxen und Hospitäler, Einkaufszentren und Supermärkte …), dann wäre es jenen Menschen, die ein erhöhtes Risiko haben – und das sind nicht wenige, dazu gleich mehr – auch weiterhin möglich, ein relativ normales Leben zu leben.

So wie sich die Lage momentan darstellt, hindert sie der Rest der Menschheit daran.

Das ist aus minde­stens zwei Gründen falsch.

1. Ebenso wie Rassismus, Klassismus und Sexismus gehört auch Ableismus zu den -ismen, die in einer modernen Gesellschaft nichts zu suchen haben. Leute, denen es gut geht, mental und physisch, neigen leider sehr dazu, jene vielen anderen zu vergessen, deren Leib oder Seele (oder beide) unter Einschränkungen leiden.

Aber ebenso, wie es mittlerweile an (immer noch nicht allen, aber immerhin) vielen Orten Zugangsmöglichkeiten für Rollstuhlfahrer*innen gibt, Gebärdensprache für im Hören Eingeschränkte, oder auch beschreibenden ALT-Text zu Internet-Bildern, der Menschen mit eingeschränktem Gesichtssinn von Screenreadern vorgelesen wird (um nur einige Beispiele zu nennen) – ganz genau so muss auch Immungeschwächten, an Herzschwäche Leidenden, Menschen mit einer neurologischen Erkrankung, Diabetes, anderen chronischen Erkrankungen die »Teilhabe«, wie es immer so schön heißt, »ermöglicht werden«.

Es gibt keinen einzigen vernünftigen Grund dagegen, in geschlossenen Räumen eine Maske zu tragen. Aber viele Gründe dafür.

Mehrere Personen mit Schutzmasken, die in einem Tischkreis zusammen in einem Raum sitzen.
Photo: Joel Danielson via Unsplash.

2. »Risikopersonen« ist ein irreführender Begriff. Die allermei­sten werden dabei sehr wahrscheinlich an Menschen denken, denen wegen einer Vorerkrankung ein schwerer COVID-Verlauf droht. Die schweren Verläufe sind aber, den in beeindruckender Geschwindkeit (auf der Basis jahrzehntelanger Forschung übrigens) entwickelten Impfstoffen sei Dank, für einen Großteil der Menschen kein Problem mehr.

Nach wie vor sehr problematisch allerdings sind langwierige Folgeerkrankungen wie zum Beispiel Long COVID. Dazu zählen auch all jene gehäuft auftretenden Erscheinungen wie Herz-Kreislauf­pro­bleme bis hin zu Infarkt und Schlaganfall, ein langfri­stig geschwächtes Immunsy­stem, Beeinträchtigungen der Hirnfunktion und zahlreiche andere, alle Organe betreffende COVID-Folgen. Die gemeinerweise sogar nach »leichten Verläufen« oder sogar symptomfreien Infektionen auftreten. Und bei jungen Leuten.

Die Autorin, Ex-taz- und SPIEGEL-Kolumni­stin Margarete Stokowski zum Beispiel ist schon weit über zwei Jahre Long-COVID-Patientin; Mitte März erinnerte sie sich anlässlich des »Long Covid Awareness Day« auf In­stagram an ihr Leben davor. Und in einem anderen Post vom 1. März schrieb sie: Manchmal fragen Leute, was ist, wenn ich trotz der Schwäche irgendwas mache? Kann sein dass es klappt, kann sein dass ich ohnmächtig werde. That’s Long COVID for you.

Und noch eines, was viele »Normalgesunde« nicht wissen: Jede Corona-Infektion addiert sich auf. Mit jedem SARS-CoV-2-Kontakt wird das Risiko größer, selbst als vorher vollkommen gesunde Person eine der vielen Folgeerkrankungen zu bekommen. Dazu gibt es reichlich Studien, die hier nicht alle verlinkt werden können; stellvertretend sei diese in nature veröffentlichte Untersuchung erwähnt. Auf der Seite LINKS dieses Blogs gibt es außerdem reichlich Recherchefutter.

Aber es scheint, als sei das Problem nicht auf COVID-19, ja, nicht einmal auf Gesundheit im allgemeinen beschränkt.

Egoismus ist offenbar hoffähig geworden. Hauptsache, mir und meiner Bubble geht es gut. Die anderen können sehen, wo sie bleiben.

In einem Flüchtlingslager. Auf den Wegen hängt Wäsche zum Trocknen, ein paar Menschen sind unterwegs. Alles wirkt provisorisch, aber trotzdem, als wären die Bewohner schon lange hier.
Photo: Julie Ricard via Unsplash.

Ein Beispiel dafür ist die sogenannte »Flüchtlingsdebatte«. Die genau genommen gar keine Debatte ist, denn allen momentan amtierenden Politikern ist gemeinsam, dass sie die Grenzen nur sehr, sehr bedingt öffnen möchten. Trotz »Fachkräftemangels«, trotz koninuierlichen Rückgangs der Geburtenrate (Deutschlands Bevölkerung hat zwar 2023 deutlich zugelegt, was aber hauptsächlich auf den Zuzug ukrainischer Menschen, die vor dem Angriffskrieg eines Imperiali­sten fliehen mussten, zurückzuführen ist).

Der Kapitalismus mit seiner massiven Propaganda für Konkurrenzdenken hat die den Menschen eigentlich eigene Fähigkeit zur Empathie und Solidarität gründlich ausgemerzt, zumindest in einem Großteil der Bevölkerung. Mit Zuckerbrot (Konsum) und Peitsche (Jobverlust).

Zum Abschluss noch mal kurz zurück zum Eingangsthema. Hier sind zwei dringende Linkempfehlungen zu Jessica Wildfires OK Doomer, englischsprachig: Mild at First: A Brief History of The 1918 Bird Flu Pandemic und We’re Cornered by Bird Flu.

Nach der Pandemie ist nämlich vor der Pandemie. (Und in Wirklichkeit auch gar nicht nach, siehe oben.)

Keine Zeit!

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Ein Salá, wie im Text beschrieben und umgeben von vielen sattgrünen Pflanzen.
Ein Salá, allerdings mit einer aufwendigeren Dachkon­struktion als sonst üblich.
Eigenes Bild. Lizenz: CC BY-SA   

(Dieser Text ist am 7. November 2012 entstanden, unter dem schattenspendenden Bananenblätterdach eines Salá – einer einfachen Hütte mit einem Tischbrett in der Mitte, davor und dahinter sechs [oder mehr, je nachdem, wie gut man sich kennt] Plätzen auf zwei Sitzplanken – in einem kleinen Ort direkt an der Südostkü­ste Thailands.

Anders als sonst in diesem Blog üblich, ist er in der Ich-Perspektive geschrieben. Er ist nicht weitergehend bearbeitet, deswegen sind bei Zeitangaben gut zehn Jahre dazuzurechnen.)


Stilisiertes Zifferblatt einer Uhr.
Eigenes Bild. Lizenz: CC BY-SA   

Mir scheint, dies ist das zentrale Problem unsere(s Teils de)r Welt: Niemand nimmt sich mehr Zeit. Ja, da steht nimmt sich, weil ich fest daran glaube, dass es zum großen (größten!) Teil an uns liegt, wie wir unsere Zeit »managen«.

Die mei­sten wird es vielleicht überraschen, dass unser Zeitverständnis noch gar nicht besonders alt ist; vor etwas mehr als zwei Jahrhunderten lebten die Menschen in Europa noch ohne den ständigen Einfluss der von der Uhr gemessenen Zeit. Sehr interessant dazu ist ein Buch, das ich vor einer Weile gelesen habe: Edward P. Thompson, »Blauer Montag. Über Zeit und Arbeitsdisziplin«, mit einer Einführung von John Holloway; hier ein Ausschnitt aus der Verlagswerbung: Vor gut 200 Jahren wurde im Zuge der Indu­striellen Revolution in England die Zeit zur Uhr-Zeit. Gelebte, an der Natur gemessene Zeit wird zu mit Arbeit oder in Freizeit verbrachter Zeit, zu genutzter oder verschwendeter Zeit. Klingt vertraut, oder?

Ich schreibe dies aus einem Land, in dem die Uhr (immer noch) längst nicht den Einfluss hat, den sie bei uns beansprucht. Okay, das ist Asien, das ist weit weg, hier gehen die Uhren anders. Aber schon in Griechenland, gerade mal zweitausend Kilometer von Deutschland entfernt, halten die Menschen mitten auf der Straße ihre Autos an und beginnen eine Plauderei von Steuer zu Steuer, und bis hinter ihnen mal jemand zu hupen beginnt, vergeht eine ganze Weile. Warum auch? Selbst Deutschland verfügt eigentlich schon über das Handwerkszeug, zum Beispiel gibt es das Sprichwort nichts wird so heiß gegessen, wie es gekocht wird. Allein daran immer mal wieder zu denken, ist schon eine große Hilfe.

Denn neben Gesundheit ist Zeit das wichtig­ste, das wir besitzen. Kein iPad oder »Smart«phone, kein Fernseher, keine schicken Klamotten, kein Auto und keine schöne Wohnung können uns vor dem Vergehen der Zeit schützen, und in Wirklichkeit brauchen wir all das nicht. In Wirklichkeit werden wir, von Werbung, Sozialneid und Gier, dazu getrieben, unsere Zeit einzutauschen gegen Geld, und dieses Geld dann gegen Güter. Wer hat daran ein Interesse – außer denen, die diese Güter herstellen? In Wirklichkeit ist die Uhr das mächtig­ste Werkzeug der Kapitali­­st*innen, die sich immer ungehemmter, drei­ster und radikaler breitmachen in unserer Gesellschaft.

Thompson hat das schon vor 45 Jahren erkannt; hier noch ein Zitat dazu aus dem Klappentext: 1967 stellte E. P. Thompson in seinem Essay dar, dass die veränderte Auffassung der Zeit nicht nur ein Symptom des sich durchsetzenden Kapitalismus ist, sondern ein Schlüsselelement zum Verständnis der modernen Gesellschaft. Von der Organisation und Teilung der Arbeit bis zur durchgeplanten Freizeitgestaltung, alle Strukturen sind von Zeitmessern durchgetaktet. Mit dem Ziel, die Menschen zu unterwerfen, ihnen ihr einziges Gut zu nehmen, über das sie wirklich frei verfügen können, und dieses Gut zu ersetzen durch Tand, glitzernden Schrott, der nach zwei Jahren automatisch in sich zusammenfällt, damit neu gekauft werden muss.

Was können wir tun? Er­­stens vielleicht uns ein Beispiel nehmen an jener noch relativ jungen französischen Bewegung der Décroissance, die auch in der Schweiz immer mehr Anhänger findet und deren Motive simpel sind: Handy abschaffen, Fernseher abschaffen, Auto abschaffen, so wenig wie möglich Ressourcen verbrauchen, nur das Nötig­ste kaufen und so den Teufelskreis aus immer mehr Konsum → immer mehr Wirtschaftswachstum → immer mehr Umweltzerstörung → immer mehr psychologische Schäden → immer mehr Konsum … unterbrechen.

Zweitens können wir uns vielleicht verabschieden von der höchst albernen Vorstellung, eine Lohn-Anstellung könne Lebensinhalt sein oder Erfüllung bieten. Von der selbstzerstörerischen Illusion, wir würden »gebraucht« in »unserer« Firma. (Sobald deine Funktion überflüssig wird oder jemand jüngeres, frischeres, besser ausgebildetes kommt, wirst du entlassen werden.) Und von der Idee, Arbeit sei etwas ehrenvolles, bedeutendes, wichtiges. Lohnarbeit ist immer, ohne Ausnahme, das freiwillige Herausstrecken der Hände zum Anlegen der Handschellen, der freudige Verzicht auf Freiheit und die Überantwortung des Menschen in die Sklaverei. (Ich weiß, an dieser Stelle werden einige murren, aber ich meine es genau so. Jede heutige Firma, sei sie tausende von Mitarbeiter*innen stark oder ein Kleinstbetrieb mit drei Angestellten, muss sich dem kapitali­stischen Gedanken beugen, muss effizient und wachstumsorientiert agieren, muss also gegen grundsätzliche menschliche Interessen handeln. Mögen di*er Chef*in und die Kolleg*innen auch noch so nett sein.)

Die grüne Som-oh ist groß wie ein Kinderkopf und liegt auf einem grünen Sitzkissen mit geometrischem Muster, das wiederum auf einem dunkelbraunen Holzstuhl mit vielen Verzierungen liegt. Eine Brille ist ihr aufgesetzt, so dass sie fast wie ein Gesicht wirkt.
Eine brilletragende Som-oh, in westlichen Sprachen Pomelo.
Eigenes Bild. Lizenz: CC BY-SA   

Und drittens … drittens können wir vielleicht ab und zu einfach mal anhalten. Ein Detail am Straßenrand betrachten. Auf dem Weg von der Mittagspause in den Büchern eines Antiquariats blättern. Spontan einen Extra-Kaffee trinken. Überraschend jemanden besuchen. Heute mal früher Schluss machen (Kopfschmerzen vortäuschen) und ans Wasser fahren. Mit Bus und Bahn oder mit dem Fahrrad, versteht sich. Wasser, überhaupt: Am Wasser sitzen ist die be­ste Quelle für die Stärkung der Seele. Und faulenzen ist der be­ste Nutzen, den wir überhaupt ziehen können aus unserer Zeit.

Vielleicht darf ich noch eins hinzufügen: Ebenfalls eine Illusion ist der Gedanke, Wachstum sei unbegrenzt möglich. Dies ist nämlich der Kerngedanke des Kapitalismus, und wie schon sämtliche Naturwissenschaften erkannt haben (Energieerhaltungssatz), ist er schlicht falsch. Auch das ist aber längst bekannt: 1972, fünf Jahre nach der Erstausgabe von Thompsons Buch, erschien erstmals der Bericht an den Club of Rome mit dem Titel »Die Grenzen des Wachstums (The Limits to Growth)« – nur angesprochen fühlt sich bis heute kaum jemand. Dabei sind wir es alle. Jede*r einzelne in unserem Verhalten und Bewusstsein; dass uns die Politik mit augenwischerischen Maßnahmen wie Pfand, Recycling, Batterierückgabe, Wärmeschutzgesetzen und »Energiewende« (555¹) dabei nicht hilft, weil sie selbst komplett in die kapitali­stischen Strukturen verstrickt ist, sollte niemanden überraschen. Per Gesetz erzwungene Energiesparlampen mit umweltschädigendem Quecksilber oder E10, das wertvollen Boden für die Nahrungsgewinnung unnutzbar macht, sind nur zwei willkürlich ausgewählte aktuelle Beispiele.

¹ Im Thailändischen – das eine Tonsprache ist, in der also die Tonhöhe über die Bedeutung entscheidet – wird die Ziffer fünf wie ein stark betontes »Ha!« gesprochen. Deswegen wird in Thai-Chats oft mit drei Fünfen ein Lachen wiedergegeben.

Kurz – und gut?

6 Minuten Lesedauer
Photo von schwarzen Shorts mit weißen Punkten, die an einer Wäscheleine hängen. Im Hintergrund grünes Laub, und im oberen Bereich ist durch ein Glasdach ein wenig Himmel zu sehen.
Bild: Niklas Hamann via Unsplash.

Ernst Piper, Professor für Neuere Geschichte, schrieb vor gut zwei Jahren für die Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) einen Artikel über die Weimarer Republik mit dem Titel »Gefährdete Stabilität 1924-1929«. (Leider wieder hochaktuell, Leseempfehlung!)

Wie mittlerweile üblich, steht am Anfang des Textes die geschätzte Lesedauer: 27 Minuten zu lesen.

Das ist vermutlich kein Rekord, aber zumindest am entgegengesetzten Ende von tl;dr.

Die Abkürzung ist im Internet weit verbreitet und bedeutet too long; didn’t read. Vermutlich zuerst 2002 verwendet, hat sie sich inzwischen für zwei Zwecke durchgesetzt: Einerseits, um zum Beispiel in einem Kommentar zu bemängeln oder zu spotten, ein Text sei zu lang, und andererseits, um einem langen Text eine Zusammenfassung voran- oder nachzustellen.

Aber was genau bedeutet dieses »zu lang«?

Und, im Sinne der Überschrift: Ist kurz wirklich immer gut? Oder gar besser?

Zum er­sten Punkt: Ob Leser*innen einen Text als zu lang empfinden, hängt zu einem guten Teil von ihren Lesegewohnheiten ab. Menschen, die sich hauptsächlich bei TikTok informieren (in Großbritannien sind das knapp 30 Prozent der Zwölf- bis 15-Jährigen […], [und] einer von zehn britischen Erwachsenen bezieht Nachrichten über die App), wird wahrscheinlich ein durchschnittlicher Blogbeitrag schon (zu) lang erscheinen, den Menschen, die regelmäßig sonntagvormittags die komplette ZEIT lesen, noch als kurz wahrnehmen.

Text-Seite einer Postkarte, eng beschrieben in alter deutscher Handschrift mit fast unleserlichem Text.
Bild: Private Postkarte von 1909 via Wikimedia Commons (gemeinfrei).

Gleichzeitig sind wir alle auch Spiegel der Gesellschaft, in der wir leben. Josephine Obert zum Beispiel ist Postkartenforscherin und sagte 2018 in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung: Die Texte werden immer kürzer.

Naja okay, mögen Sie sagen, auf Postkarten … Aber auch, beispielsweise, in Schulbüchern: Das österreichische Bundesmini­sterium für Unterricht, Kunst und Kultur schrieb schon 2002: Mit dem gesellschaftlichen und vor allem dem kom­mu­ni­ka­tions- und medientechnologischen Wandel der letzten Jahrzehnte haben sich viele Lesestoffe und hat sich auch das Lesen selbst verändert: Visuelle Darstellungsformen ergänzen immer häufiger und in immer mehr Bereichen unseres täglichen Lebens die Schriftlichkeit. (…) Lesen wandert zunehmend auf den Bildschirm, Texte werden kürzer und stärker gegliedert, auch in Schulbüchern werden zentrale Inhalte zunehmend visualisiert vermittelt.

Knappe Texte, viele hübsche, bunte Bilder: So verlieren Menschen schon früh ihre Konzentrationsfähigkeit, ihre Aufmerksamkeitsspanne wird immer geringer (angeblich sind es nur noch acht Sekunden, bis sie von etwas anderem abgelenkt werden), ihnen wird der »Fokus gestohlen«, wie eine These und ein Buchtitel des (nicht unumstrittenen, aber lesenswerten) Autors Johann Hari lauten.

Nur noch ein weiterer Vergleich: Auf der Titelseite der hannoverschen Tageszeitung »Norddeutscher Kurier« vom 26. November 1923 steht ein Text von rund 2 500 Wörtern Länge; eine durchschnittliche Lesegeschwindigkeit von 200 Wörtern pro Minute vorausgesetzt, stünde heute darüber: »Lesedauer 13 Minuten«. Und dieser Text macht nur etwa die Hälfte der Seite aus.

Tageszeitung. Titelseite.

Heute, 100 Jahre später: absolut unvorstellbar.

Kinder-Kreidezeichnung eines Hauses mit einem Apfelbaum und der Sonne, ungelenk mit weißer Kreide auf eine schwarze Tafel gezeichnet.
Bild: Mick Haupt via Unsplash.

Manche Zyniker (und auch nüchterne Forscher) sprechen schon seit einiger Zeit von einer zunehmenden Infantilisierung der Gesellschaft; die englische Originalausgabe des Buches »Wir amüsieren uns zu Tode« von Neil Postman erschien 1985. Darin wird die Grundidee von Aldous Huxleys »Brave New World« (»Schöne neue Welt«) weitergeführt, dass die Menschen sich freiwillig in Unfreiheit begeben, weil sie Lustbefriedigung und kurzweilige Unterhaltung ihrer eigenen Autonomie vorziehen.

Auch die Massenmedien (Print, Radio, TV und ihre jeweiligen Online-Ableger) reagieren auf wachsenden wirtschaftlichen Druck mit einer Anpassung ihres Journalismus an Publikumswünsche, indem sie immer häufiger Information und Unterhaltung, Öffentliches und Privates vermischen, wie eine hochinteressante Analyse der oben schon erwähnten bpb kon­statiert.

Und ein (englischsprachiger) Artikel aus diesem Jahr in The Guardian erwähnt viele weitere Faktoren, die Konzentration beeinflussen können, wie zum Beispiel die immer kürzer werdenden Schnittfolgen in Filmen und Serien – eine subtile, ganz und gar unbemerkte Manipulation menschlicher Wahrnehmung.

Nicht nur wird die individuelle Konzentrationsfähigkeit immer geringer, auch gesellschaftlich zeigt sich: Die kollektive Aufmerksamkeit nimmt ab, wie das Magazin Forschung & Lehre schon 2019 schrieb. Während 2013 ein Hashtag durchschnittlich 17,5 Stunden in der Top-50-Li­ste war, blieb er dort 2016 nur noch durchschnittlich 11,9 Stunden, heißt es da. Und in diesem Jahr beträgt die durchschnittliche Lebensdauer eines trending hashtags elf Minuten.

Auch das Max-Planck-In­stitut kam 2019 zu dem Schluss: Mit der Informationsflut sinkt die Aufmerksamkeitsspanne der Gesellschaft.

So, das war jetzt in gewisser Weise auch eine Informationsflut – wer’s bis hierher geschafft hat: Hut ab! 😎

Kehren wir zurück zur Überschrift und der zweiten sich stellenden Frage: Ist kurz gut?

Es wäre schön, könnte man diese Frage mit einem einfachen »Nein!« beantworten. Aber alle, die sich öffentlich äußern, sei es in Video- und Audiobeiträgen oder mit dem geschriebenen Wort, müssen sich zwangsläufig auch Gedanken machen darüber, wen sie wie erreichen wollen. Wem nützt es, einen ewig langen Artikel über ein Herzensthema zu schreiben, den niemand liest, weil: tl;dr?

Andererseits: Wem nützt es, wenn sich alle Schreibenden, alle Medien- und Journalismusschaffenden dem »neuen Normal« von maximal zwei Minuten Lesedauer unterordnen? Damit befördern sie schließlich einen Prozess, der schleichend, aber nachhaltig zu einer Entmündigung der Menschen führt. Denn eines ist sicher:

Nur wer imstande ist, komplexe Sachverhalte zu verstehen, ist auch imstande, komplexe Probleme zu lösen.¹

Wer sich nicht konzentrieren kann, wird zum Spielball fremder Interessen.

Wirtschaftlicher und politischer.

Anders ausgedrückt: Wer nicht gründlich, nüchtern und differenziert Für und Wider abwägen kann, kann auch nicht Demokratie.

Aber ohne Demokratie – das lässt sich schon seit einer Weile beobachten – fällt die Menschheit zurück in mittelalterliche Feudalstrukturen. In denen nur die Für­sten² Rechte haben, alle anderen aber entrechtetes Fußvolk sind.

Wollen wir Menschen das?

¹ Deswegen fällt es zum Beispiel vielen immer noch so schwer, die Tragweite der Klimakata­strophe anzuerkennen.

² Milliardäre, Millionäre, Konzernlenker, Venture Capitalists, Shareholder … Sie wissen schon.

Und er so *freu*.

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Detail-Ansicht der Bronzeplastik von Karl Valentin beim nach ihm benannten Brunnen am Münchner Viktualienmarkt. Das Metall der Statue ist dunkelgrün, in den rechten Arm der Figur hat jemand eine frische, leuchtend gelbe Sonnenblume gelegt.
Karl-Valentin-Brunnen, München
Bild: Amrei-Marie via Wikipedia
Lizenz: CC BY-SA   

Vieles, was auf vielen Coaching-Websites, in vielen, vielen Selbsterfahrungs-Posts auf Social Media und bei vielen Selbst­opti­mie­rungs-Kursen als heilend angeboten wird, ist grober Unfug. Dem Universum ist es egal, was wir uns von ihm wünschen, Engel sind (ähnlich wie wir Menschen) hauptsächlich mit sich selbst beschäftigt, und positives Denken kann sogar negative Folgen haben.

Das heißt aber nicht, dass ein bodenständiger, realitätsverhafteter Ansatz zur psychischen Selbstju­stierung keine gute Idee wäre.

Karl Valentin zum Beispiel, Komiker aus Bayern in der er­sten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts, sagte einmal:

Ich freue mich, wenn es regnet, denn wenn ich mich nicht freue, regnet es auch.

Das ist doch mal eine ausgesprochen gesunde Einstellung, mit den Unbilden und Widerbor­stigkeiten des Lebens umzugehen. Geht ein bisschen in die Richtung des bekannten »Gelassenheitsgebets«, das hier aus athei­stischen Erwägungen leicht gekürzt wiedergegeben werden soll: Es geht darin um die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.

Alte Diagrammzeichnung eines Gesichts mit Gehirnregionen. Zahlreiche englische Begriffe sind darauf eingetragen, wie zum Beispiel »Intellect«, »Affection«, »Volition« oder auch »Truth« und viele andere.
Bild: Alesha Sivartha (Pseudonym von Arthur Merton) via Internet Archive (gemeinfrei).

Natürlich ist es außerdem völlig okay, die eigenen Werte, Selbstbilder und Stolperfallen immer wieder zu hinterfragen und sie durch hilfreichere Erkenntnisse zu ersetzen; auch mit fremder Hilfe. Der Unterschied zu den im er­sten Absatz erwähnten Dingen ist, dass der Ansatz »ich betrachte mich und lerne, mich zu verändern« psychologisch ist; therapeutisch, nicht transzendental. Erprobt, nicht erhofft. Wissenschaftlich, nicht wundergläubig.

Das heißt ganz und gar nicht, dass nicht auch Therapien und Therapeut*innen fehlerbehaftet sein können, wohlgemerkt! Immerhin ist der Begriff »Therapeut*in« gesetzlich nicht geschützt und daher kein Hinweis auf ein erfolgreich abgeschlossenes Studium oder auch nur fachliche Kompetenz, wie die Wikipedia schreibt.

Aber viele, wenn nicht sogar die mei­sten Psychotherapeut*innen (das wiederum ist eine geschützte Berufsbezeichnung, die eine fundierte Ausbildung voraussetzt und verschiedenen Zulassungsverfahren unterliegt) tun ihre Arbeit auf der Basis nachvollziehbarer, wiederholbarer, stati­stisch erfassbarer – kurz: wissenschaftlicher Methoden.

Detail-Ansicht eines alten medizinischen Gesichts- und Gehirnmodells. Die Augen sind geschlossen, die Schädeldecke ist aufgeschnitten. Auf das Gesicht geschrieben stehen verschiedene Begriffe wie »Ortsinn«, »Umfang«, »Individualität« oder auch »Sprache«
Bild: David Matos via Unsplash.

Und sie sind eingebettet in einen größeren wissenschaftlichen Kontext; Erkenntnisse aus der Verhaltensforschung, Neurologie, Biochemie und vielem mehr tragen zum Gesamtbild der menschlichen Psyche und Beschaffenheit bei.

Wenn aber Rhonda Byrne, millionenschwere Autorin des Weltbestsellers The Secret, po­stuliert: Thoughts are more powerful than actions, dann ist das natürlich schlicht riesengroßer Quatsch. Frau Byrne hat sich mehrere goldene Nasen verdient mit dem simplen Versprechen, dass sich Glück, Erfolg, perfekte Beziehungen und dergleichen mehr einfach per Gedankenkraft manife­stieren lassen. Das glauben Menschen natürlich gern.

Jessica Wildfire hat kürzlich darüber geschrieben, was besagtes Buch mit der westlichen Zivilisation angestellt hat (Spoiler: nichts Gutes) und in einem anderen Artikel darauf verwiesen, welches Elend die Idee des »positiven Denkens« in den USA anrichtet (Spoiler: großes).

Beide Texte sind englisch, aber es ist kein übermäßig schwieriges Englisch, und Jessica Wildfire und ihr Blog OK Doomer sind absolut lesenswert – hilfreich kann es sein, bei Unklarheiten die gut trainierte Übersetzungsmaschine DeepL zu Rate zu ziehen. Das ist sehr einfach: Den fraglichen Textblock kopieren, in das linke DeepL-Fen­ster einkopieren, dann rechts die gewünschte Sprache auswählen.

Zurück zum Thema: Dass die »Behandlung« persönlicher, psychischer Probleme mit »Eso-Methoden« für die Betroffenen meist nur scheinbare Besserung bringt, ist schlimm genug – minde­stens ebenso bedenklich ist aber, dass hinter all dem weichgespülten, sanften »Lebenshilfe-Speak« eine milliardenschwere Indu­strie steht. Die er­stens mit menschlicher Verzweiflung gigantische Umsätze erzielt und zweitens Betroffene oft in sektenartige Abhängigkeit führt.

Hier einige Dokumentationen und Reportagen zu dem Thema [Längen in Klammern]:

Photo von »magischen« Gegenständen; Graphiken, ein Knochen, alchemistische Gefäße und ähnliche.
Bild: Asia Lascioli via Unsplash.

Auch in der Politik und im gesellschaftlichen Leben hinterlässt Esoterik mehr und mehr Spuren; schon während der COVID-Maßnahmen zeigte sich, dass Spiritualität sich oft erschreckend dicht in der Nähe von Verschwörungsideologien und rechtsradikalen Strömungen aufhält. (Was vielleicht auch daran liegt, dass Esoterik in der ursprünglichen Bedeutung des Begriffs eine philosophische Lehre ist, wie die Wikipedia schreibt, die nur für einen begrenzten ›inneren‹ Personenkreis zugänglich ist, im Gegensatz zu Exoterik als allgemein zugänglichem Wissen. Daher das Gefühl von Erwähltheit und Überlegenheit vieler esoterisch bewegter Menschen.)

In diesem Frühjahr sprach Alrun Schleiff von der Heinrich Böll Stiftung mit der Autorin Pia Lamberty darüber.

Ach, und falls Sie lieber, statt sich über den Regen zu freuen, wissen wollen, wie Sie ihr Leben am be­sten gestalten, dann bitten Sie doch Hildegard Matheika, für Sie eine Palmblatt-Lesung durchzuführen: Die Palmblatt-Bibliotheken wurden vor ca. 5000 v. Chr., von Rishis geschrieben, Menschen, die die Fähigkeiten hatten in die Akasha-Chronik zu gehen, in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verschmelzen. Und wenn’s dabei ziept: Frau Matheika macht auch Reiki. Und Energieübertragung. Und Rückführung, Reinkarnations»therapie«. Und nimmt Kontakt zum Jenseits auf. Und liest Karten. Und Hände. Auch telephonisch. Oder per Videocall.

Namaste.

Bis auf »Cash & Karma« stammen alle Videos von YouTube, werden hier aber über Invidious mit dem URL-Parameter local=true verlinkt, was bedeutet, dass Google und YouTube Sie nicht tracken können.
Da YouTube häufig versucht, Invidious zu blockieren, funktionieren die Links manchmal nicht; dann können Sie eine andere Invidious-Instanz versuchen (Video 1: redirect.invidious.io/watch?v=BQDKsRs1qdc&local=true, Video 2: redirect.invidious.io/watch?v=ODkYVCuahes&local=true, Video 3: redirect.invidious.io/watch?v=33WwVHb8TkI&local=true, Video 4: redirect.invidious.io/watch?v=n3n6v3x-9-g&local=true, Video 5: redirect.invidious.io/watch?v=QPRdvb0FRY8&local=true, Video 6: redirect.invidious.io/watch?v=lvnGKNFTT30&local=true.

Tut manchmal not.

3 Minuten Lesedauer
Schwarz-weiß-Photographie, Nahaufnahme eines Cellos. Im Hintergrund verschwommen ein Gesicht.
Bild: Massimo Sartirana via Unsplash.

Es gibt Momente von so großer Traurigkeit, dass Worte sie kaum noch zu erfassen schaffen. Manchmal auch gar nicht; manchmal macht Trauer sprachlos. Vielleicht ist das einer der Hauptgründe, warum Menschen Musik erfunden haben? Als Kunst, die imstande ist, jenseits des Verstehens in die tief­sten Bereiche unserer Gefühle zu tauchen. Und uns damit zu bestätigen: Wie unendlich dir deine Traurigkeit jetzt auch vorkommen mag – du bist doch nicht allein in ihr, nicht darin verloren.

Eines jener Stücke, die diese Hoffnung in der aller-, und wirklich: aller!tief­sten Trauer auszudrücken vermögen, ist dieses hier:

Samuel Barber: »Adagio for Strings« op. 11

Vor fast zwanzig Jahren von BBC-Hörern zur traurig­sten Musik der Welt gewählt, entstand das Adagio ursprünglich 1935/36 – Barber war 25, 26 Jahre alt – als Teil des »Streichquartetts Op. 11«, bevor er Ende 1936 eine Orche­sterversion arrangierte. Diese führte 1938 der berühmte Dirigent Arturo Toscanini mit dem NBC Symphony Orche­stra für eine Radioübertragung auf; 1940 gingen er und das Orche­ster damit auf Südamerika-Tour.

Das Stück ist das mit Abstand bekannte­ste von Samuel Osmond Barber II, und es exi­stieren unzählige Versionen.

Hier einige zur Auswahl:

Ein kleines Lamm blickt selbstbewusst und neugierig in die Kamera.
Bild: Mali Desha via Unsplash.

Barber selbst hat das Adagio 1967 auch für Chor arrangiert, mit dem Text des »Agnus Dei« (»Lamm Gottes«) aus der katholischen Liturgie. Hier zwei schöne Aufnahmen dieser Fassung, eine von
 × The Choir of Trinity College, Leitung Richard Marlow,
und die andere vom
 × Vlaams Radiokoor, Leitung Marcus Creed.

Der Text lautet:

‘Agnus Dei, qui tollis peccata mundi, miserere nobis.
Agnus Dei, qui tollis peccata mundi, dona nobis pacem.¹

Lamm Gottes, das du die Sünden der Welt fortnimmst, sei uns gnädig. Lamm Gottes, das du die Sünden der Welt fortnimmst, gib uns Frieden.

Anmerkung: WERNERPRISE° ist der Impuls, zu einer höheren In­stanz (in diesem Fall Jesus, für den das »Lamm Gottes« stellvertretend steht) zu beten, vollkommen fremd. Weder aber macht das die Musik weniger schön, noch tut es der lautmalerischen Schönheit der Zeilen und der Inbrunst² der Sänger Abbruch.

Nicht mal ansatzweise so traurig, aber trotzdem ein musikalischer Verwandter von Barbers »Adagio for Strings« ist übrigens »Nimrod« von Edward Elgar aus den »Enigma Variations« op. 36, hier gespielt vom WDR Funkhausorche­ster und dirigiert von Helmuth Froschauer.

¹ Schrift: Aquiline Two von Manfred Klein.
² [Note to self: »Inbrunst« Kandidat fürs Wortmuseum?]

Red’ mit dir!

3 Minuten Lesedauer
Als Mosaik gestaltetes Porträt einer Person mit großen Augen und roten Lippen, viele bunte Muster im Hintergrund. Durch digitale Bildbearbeitung ist das Gesicht gespiegelt, und es wirkt, als spräche es mit sich selbst.
Bild: Giulia May via Unsplash.

Schön ist ja, wie es seit einigen Jahren immer normaler wird zu erleben, dass Leute auf der Straße mit sich selbst sprechen.

Schon klar, meistens ist schlicht der kleine Knopf im Ohr nicht zu sehen, der die Sprechenden mit mobil verknüpften Angesprochenen verbindet. Aber es wirkt, als seien sie tatsächlich im Dialog mit sich selbst. Und der hat einen schlechten Ruf – deswegen ist diese Entwicklung so erfreulich. Weil sie hoffentlich, hoffentlich dazu führt, dass Mit-sich-selbst-Sprechende nicht mehr länger angeguckt werden, als seien sie mental beschädigt oder womöglich gar gefährlich.

Jener schlechte Ruf, den das Selbstgespräch hat, ist nämlich – mindestens teilweise – sehr unberechtigt.

So lange die Person noch von der Außenwelt erreichbar bleibt, so lange der Dialog mit sich selbst also keine Sich-Verschließen vor der Welt bedeutet, ist er ein gutes Hilfsmittel zur Selbstreflexion.

Vor einer Zimmertür ist der Rücken einer Person in schwarzer Kleidung zu sehen, die sich selbst umarmt.
Bild: Hala Al-Asadi via Unsplash.

Das WDR-Wissensmagazin Quarks zum Beispiel schreibt auf seiner Website: (…) Pragmatiker sprechen gut und viel mit sich selbst und können eine Problemlösung zielstrebig angehen.

Und verlinkt eine Studie (PDF-Download) der Psycholinguistin Anke Werani von 2009, in deren Zusammenfassung es heißt: In diesem Artikel wurde gezeigt, wie mit der Methode des lauten Denkens ein Zugang zum inneren Sprechen gefunden werden kann. (…) In konstruktiver, ermutigender und motivierender Form wirkt sich das innere Sprechen überaus positiv auf den Problemlöseprozess und damit die Problemlösegüte aus, es übernimmt Funktionen wie beispielsweise Selbstregulation, Reflexion über die momentane Tätigkeit sowie die eigentliche Problemlösung.

Schon vor Jahren sprach DER SPIEGEL mit der Psychologin Corinna Reichl vom Uniklinikum Heidelberg, und wenn der Artikel auch warnte: In Verbindung mit Einsamkeit können häufige Selbstgespräche ein Risikofaktor sein, so wurde Reichl doch so zitiert: Selbstgespräche sind in einem angemessenen Rahmen ganz und gar nicht schlecht.

Denn, so schreibt das Magazin weiter: Während eines Selbstgesprächs seien im Gehirn die gleichen Regionen aktiv wie bei einem tatsächlichen Dialog. Dies könne zu dem vorübergehenden Gefühl führen, in eine soziale Interaktion eingebunden zu sein

Es gibt der Quellen reichlich mehr, die eine wohltuende, unterstützende Wirkung des inneren Dialogs bestätigen; am schönsten aber bringt es vielleicht das Wissenschaftsmagazin Spektrum auf den Punkt: Schweigen ist Silber, Reden ist Gold.

Außen hui.

7 Minuten Lesedauer
Person, die sich selbst im Smartphone betrachtet. Das Gesicht ist allerdings nicht zu erkennen, weil mitten auf dem Smartphone-Bildschirm ein großes Kamera-Objektiv angebracht ist.
Bild: Aaron Weiss via Unsplash.

Es ist wahr, Menschen hatten schon immer das Bedürfnis, sich nach außen besser darzustellen, als es im Innern tatsächlich aussah. Was sollen denn die Nachbarn denken ist einer der vielen Klassiker aus der vordigitalen Zeit, zusammen mit Sonntagsgarderobe, Zehn Schmink-Tips, mit denen du jeden Boy rumkriegst und Männer weinen nicht.

Und es stimmt natürlich nicht, dass ganz plötzlich um 2007 herum Millionen Menschen zu Digitalnarzissten wurden, nur weil sie dank Steve Jobs und Mark Zuckerberg auf einmal in der Lage waren, ihre Selfies zu veritablen Hochglanz-Photos zurechtzufiltern und mit dem gesamten Universum zu teilen (oder immerhin den vierzehn Followern aus der Wilhelm-Raabe-Schule Lüneburg).

Aber was sicherlich zutrifft: Seither ist die Selbstdarstellung von Privatpersonen auf VIP-Maßstäbe angewachsen.

Eine Hand hält ein weißes Smartphone mit weißem Bildschirm, daneben eine weiße Tasse mit braunem Cappuccino, alles sehr schick.
Bild: Marianne Krohn via Unsplash.

Als hätten alle einen Schnellkurs zum Thema Sei deine eigene Marke belegt, werden selbst Katzenvideos, Urlaubsphotos und Kochrezepte als Personal Branding behandelt wie umsatzsteigernde Unternehmenskommunikation.

Auch wenn die wenigsten Menschen wohl tatsächlich Influencer, Vlogger, YouTuber werden wollen, ist doch das Bestreben, immer im besten Licht dazustehen, nicht nur auf die im ersten Absatz erwähnten menschlichen Eigenschaften zurückzuführen. Sondern auf das relative neue Phänomen der Instagramisierung, oder auf Englisch Instagramification – was fast noch schöner ist, denn darin steckt auch ein Wortspiel mit Instant Gratification, dem Prinzip der Sofort-Belohnung aus der Psychologie.

Das Problem ist bloß: Instant Gratification funktioniert nur bedingt – und macht schnell süchtig.

Denn Social Media erfüllen nur scheinbar ein Bedürfnis. Das Bedürfnis, geliebt, oder zumindest gemocht, oder wenigstens gehört oder gesehen zu werden. Und zunächst fühlt es sich ja auch irgendwie total gut an, wenn sich Likes, Herzchen, Sternchen, Daumen und »Geteilt«-Zähler unter dem Beitrag ansammeln.

Aber dann … dann kommt uns unsere Hirnchemie in die Quere.

Jedes positive Signal, jedes ❤️, jedes 🔥, 😍, 👍, 💯 und 🤗 ist wie eine kleine Umarmung. Der Dopaminspiegel steigt.

Und je länger wir uns dem aussetzen, je länger andauernd der Dopaminspiegel hochgeregelt wird, desto mehr stellt sich unser Gehirn um. So dass das »High« schließlich zum »neuen Normal« wird. Und das »alte Normal« zu Depressionen führt. In dieser Hinsicht wirkt sich die Nutzung von Social Media auf unser Gehirn ganz genau so aus wie Drogenkonsum, von Alkohol über Marihuana, MDMA und Kokain bis Heroin.

Die Psychiatrie-Professorin Anna Lembke aus Stanford erklärt das in zwei gleichermaßen informativen wie unterhaltsamen Videos sehr viel besser und detaillierter, allerdings auf Englisch:

  1. In einem Video-Interview¹ mit the weekend UNIVERSITY, und
  2. bei einem Vortrag² für die Standford Alumni.
Mehrere Geschäftsmänner in Anzügen, jeder mit einem Smartphone in der Hand, alle offensichtlich sehr mit den Geräten beschäftigt.
Bild: Camilo Jimenez via Unsplash.

Auf der Website der österreichischen Fake-News-Wächter Mimikama (offiziell: Verein mit dem Ziel der Aufklärung über Internetmissbrauch) ist aktuell ein Beitrag zu dem Thema erschienen, in der es heißt: Ohne es zu merken, sind wir in ständiger Alarmbereitschaft, immer auf der Suche nach der nächsten Information, dem nächsten Like, der nächsten Nachricht.

Wie Heroinsüchtige auf der Jagd nach dem nächsten Schuss.

Hinzu kommt die Art, wie die allermeisten Menschen ihre Insta-, TikTok-, Snapchat-, Facebook- (die älteren), Twitter- (die unbeirrbaren) und was sonst noch alles für Kanäle nutzen: Mit dem Smartphone. Das oft, meistens sogar, ausgesprochen handschmeichlerisch gestaltet ist. Berührung ist eine der wichtigsten beziehungsbildenden Maßnahmen, wir streicheln, was oder wen wir gern mögen, und umgekehrt mögen wir gern, was oder wen wir ständig streicheln.

Erst recht, wenn er, sie oder es reagiert – und das tun Smartphones mit einer leichten Vibration, wenn sie betastet werden. Ein kleines digitales Wesen (wer erinnert sich noch ans elendige Tamagotchi?) in der Hosen-, Jacken- oder Handtasche, meistens aber in der Hand; über zweieinhalbtausend mal berühren Menschen ihr Phone täglich, zeigten im vergangenen Jahr Studien aus den USA und Belgien.

Eine aktuelle Untersuchung aus den USA hat ergeben, dass Amerikaner derzeit rund viereinhalb Stunden täglich dem Handy widmen. Vor zwei Jahren waren es unter Deutschen immerhin auch schon fast dreieinhalb, und noch ein Jahr früher meldete ZDNet: 89 % der Deutschen besitzen ein Smartphone, 94 % von ihnen verwenden es täglich – und 31 % verspüren sogar einen Zwang, ständig auf ihr Smartphone zu schauen.

Weil ihr Belohnungssystem rebelliert und Dopamin-Nachschub fordert.

Weil sie hoffen, dass jemand oder etwas ihnen gerade ein bisschen Liebe, oder zumindest Zuneigung, oder wenigstens Anerkennung geschickt hat.

Immerhin, der Anteil jener Konsumenten, die den Umfang ihrer Smartphone-Nutzung kritisch sehen, ist deutlich gestiegen, heißt es weiter in der damaligen ZDNet-Meldung. Und zunehmend werden negative Begleiterscheinungen wahrgenommen, von Unkonzentriertheit über spätes Einschlafen bis hin zu Kopfschmerzen.

Aber ganz ehrlich: Momentan sieht es noch nicht so aus, als wollten die Betroffenen groß etwas ändern. Und das, obwohl die ständige Bewertung durch andere und der Vergleich mit dem scheinbar perfekten Leben anderer zu erhöhtem Stress führen kann, wie es in dem oben erwähnten Mimikama-Artikel heißt.

Vielleicht sollten sie sich klar machen, was Professor Andrew Lepp schon 2016 herausgefunden hat: Smartphone-Nutzung [ist] schlecht für die emotionale Nähe.

Lepp erwähnt ein Phänomen, was Wissenschaftler neuerdings problematische Handy-Nutzung nennen. Leute mit solch einer problematischen Nutzung sind jene, die das Handy in Situationen benutzen, in denen man das eigentlich nicht tun sollte. Sie verspüren einen Zwang, das Handy zu nutzen, das ist fast schon Suchtverhalten. Seine Untersuchung hat festgestellt: Und diese Art der Nutzung hat einen negativen Zusammenhang mit dem Gefühl der emotionalen Nähe.

Menschen, die einen Hang hatten, das Handy problematisch zu nutzen, die fühlten sich auch nicht vertraut mit Eltern oder Freunden.

Zwei Bisons inmitten von Autos auf einer Straße, die Köpfe kampfbereit gegeneinander gesenkt.
Bild: Goutham Ganesh Sivanandam via Unsplash.

Je mehr Menschen zu dieser problematischen Nutzung neigen (und, siehe oben, das scheint offensichtlich zuzunehmen), desto schwieriger wird es also mit dem Miteinander.

Gut möglich, dass aus dem Gemenge aus Sucht, Selbstfixierung und Abkehr vom gemeinsamen Austausch das geworden ist, was wir inzwischen als eine deutliche Verhärtung der Fronten zwischen Menschen erleben, als ein Entweder bist du für mich, oder du bist gegen mich! Dazwischen gibt’s keine Grautöne mehr! Das war hier ja neulich schon mal Thema.

Vielleicht ist es jetzt – ja, in genau diesem Moment! – an der Zeit, das Smartphone wegzulegen und dem Rat des Professors zu folgen, guck den wichtigen Menschen in deinem Leben in die Augen, sprich mit ihnen ohne Bildschirm zwischen euch.

Oder sich eine Stunde Zeit zu nehmen und in aller Ruhe der Professorin für Religionswissenschaft Anne Koch und Wilhelm Schmid, »Philosoph der Lebenskunst«, zuzuhören, die im SRF mit Ahmad Milad Karimi über Berührungen im Alltäglichen wie auch im Metaphysischen sprechen. Schmid zum Beispiel sagt: Das körperliche Sein erfahre ich am instensivsten durch Berührung.

Zwischen Menschen, wohlgemerkt.

¹ ² Beide Videos stammen von YouTube, werden hier aber über Invidious mit dem URL-Parameter local=true verlinkt, was bedeutet, dass Google und YouTube Sie nicht tracken können.
Da YouTube häufig versucht, Invidious zu blockieren, funktionieren die Links manchmal nicht; dann können Sie eine andere Invidious-Instanz versuchen (für das erste Video hier: redirect.invidious.io/watch?v=t4iGCgIB0bg&local=true, für das zweite hier: redirect.invidious.io/watch?v=n2u8Z1HeKD8&local=true.

O Tempora.

3 Minuten Lesedauer
Kopiezeichnung einer Büste von Cicero aus dem Jahr 1885.
Bild: Wikipedia (gemeinfrei).

In diesem Blog werden gelegentlich auch Beiträge erscheinen, die nichts mit dem Beruf des Texters und/oder Webdesigners zu tun haben.

Einen Anfang macht dieser.


Seit dem Jahr 70 v. Chr., in dem der römische Politiker, Anwalt, Schriftsteller und Philosoph Cicero ihn zum ersten Mal verwendete, steht der Ausruf o tempora, o mores! für die Verzweiflung angesichts rapide um sich greifenden Sitten- und Moralverfalls.

Dass seitdem knapp 21 Jahrhunderte vergangen sind, ändert einerseits nichts an der Relevanz des Zitats, und andererseits ist seine Aktualität vielleicht sogar noch gestiegen.

Es begann mit der massenhaften Verbreitung von Smartphones und dem parallel verlaufenden Run auf Soziale Medien ab 2007. Schnell kamen schon damals Befürchtungen auf, die vermeintliche Anonymität im Netz verführe dazu, alle Höflichkeit (und das, was man im Web 1.0 »Netiquette« nannte) fahren zu lassen und schlechte Laune, Frustration und Hass auf andere ungefiltert in die Tastatur zu hacken.

Mit dem Beginn der COVID-19-Pandemie hat die ungezügelte Lust am (Be-)Schimpfen massiv zugenommen, aber noch ein weiteres Phänomen trat an ihre Seite: Die Entweder-Oderisierung des Diskurses.

Frei nach dem angeblich auf Jesus von Nazareth zurückgehenden Satz wer nicht für mich ist, ist gegen mich werden in den vergangenen Jahren immer massivere Fronten aufgebaut. Als wäre die Schraube einige Umdrehungen weiter angezogen, in Richtung der Sure 9:5 des Korans: (…) tötet die Götzendiener, wo immer ihr sie findet, ergreift sie, belagert sie und lauert ihnen aus jedem Hinterhalt auf!

Das riecht arg schweflig nach Mittelalter.

Als hätten wir Menschen in einem gewaltigen Satz rückwärts das Zeitalter der Aufklärung einfach übersprungen.

An dieser Stelle sei ein kurzer Blick nach oben an den Anfang dieser Seite empfohlen, genauer: das Irving-Zitat. Nicht im entferntesten intellektuell sei alles, was mit (religiösem oder sonstigem) Glauben zu tun hat. (Deutsche lesen in den Begriff »intellektuell« gern die sogenannte »höhere Bildung« hinein, aber im Englischen bedeutet es einfach hat mit dem Verstand zu tun).

Menschen handeln und äußern sich dieser Tage immer weniger verstandes-, sondern immer mehr instinktgesteuert, ausgehend von persönlichen Meinungen und Überzeugungen – komme, welch’ anderslautende wissenschaftliche Erkenntnis wolle. Und die »Götzendiener« aus dem Koran-Zitat oben – das sind alle, die anders glauben, fühlen, denken. Oder sind.

Two hands holding one another.
Bild: Ave Calvar via Unsplash.

Es gibt kaum noch Grautöne; die Dinge haben entweder weiß, oder aber schwarz zu sein. Dass es möglich ist, einen Aspekt einer Sache gutzuheißen und einen anderen als falsch zu erachten, dass menschliche Entscheidungen und Handlungen von zahlreichen, unterschiedlichsten Faktoren beeinflusst werden, die sich sogar gegenseitig widersprechen mögen, das scheint nur noch den wenigsten klar zu sein.

Wenn aber etwas für das Überleben der Demokratie absolut unerlässlich ist, dann eben gerade die Fähigkeit zum Sowohl-als-auch, zum Dialog, zum Kompromiss.

Zum Miteinander.

Und die Erkenntnis, dass die eigene Freiheit nur soweit reichen kann, wie sie die Freiheit anderer nicht beschneidet, oder gar erstickt.

Ja, das geht auch – und ganz besonders! – an euch Milliardäre, Millionäre, Erben, Unternehmenslenker, Lobbyisten … kurz: Kapitalisten.

 

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