Seit Mitte der Neunziger das Internet allmählich allen zugänglich wurde, und erst recht seit 2007, als mit der Einführung des iPhone das Internet in die Hosentasche passte und jetzt überall hin mitgenommen wird, sind wir Menschen immer mehr miteinander vernetzt.
Wir stehen also in engerem Kontakt und sind uns näher gekommen.
Oder?
Im Lauf der vergangenen zwanzig Jahre häufen sich Untersuchungen, Artikel, auch persönliche Berichte darüber, dass das Gefühl von Vereinzelung und Isolation, von »Ich und die anderen« zunehme. Ist das nicht ein Widerspruch?
Nicht unbedingt. Denn die Art, wie wir uns verbinden und vernetzen, hat sich in ihrer Qualität verändert. Dabei bedeutet »Qualität« erst einmal keine Wertung, sondern einfach »Summe von Eigenschaften«.
Die allermeisten Menschen kommunizieren heute auf vielfältige Weise; Chats wie WhatsApp, Social Media und E-Mail sind vielen vertraut. Nicht mehr vertraut ist ihnen zum Beispiel das Telephon. Das live und direkt miteinander Sprechen hat mittlerweile einen schlechten Ruf. Anstrengend, unterbrechend, invasiv – und unnötig.
Dabei ist aber das Bedürfnis nach dem gesprochenen Wort natürlich nicht verloren gegangen. Es wird nur anders ausgelebt: mit manchmal viertelstundenlangen Sprachnachrichten zum Beispiel. Der große – scheinbare – Vorteil: Die sprechende Person kann ihre Gedanken loswerden, ohne von der zuhörenden Person unterbrochen zu werden und so den roten Faden zu verlieren. Alle anderen Vorteile, die zum Beispiel dieser (englischsprachige) Artikel nennt, gelten gleichermaßen für Telephongespräche.
Der – tatsächliche – Nachteil liegt eigentlich auf der Hand, wird aber offenbar von vielen ignoriert oder für unwichtig gehalten: So passiert kein Austausch. Das lebendige Gespräch zwischen Menschen lebt vom Geben und Nehmen, von Einwänden, Ergänzungen, von Zu- und auch Widerspruch.
Ähnlich ist es inzwischen mit Verabredungen: Ich weiß doch jetzt noch nicht, ob ich übermorgen Zeit und Lust habe!
Lass uns noch mal texten.
Ich häng gerade noch bei Ellen, wird wohl später.
Klingt super, nach Freiheit und Flexibilität.
Oder doch nicht?
Natürlich kann es manchmal unbefriedigend sein, eine Verabredung im Nacken zu haben – zum Beispiel, wenn sich ein anderes Treffen als besonders und unerwartet inspirierend erweist, oder wenn es im Job mal wieder länger dauert.
Aber sich gleich gar nicht mehr zu verabreden und immer nur auf (digitalen) Zuruf zu treffen, führt zu einer Normalisierung der Unverbindlichkeit. Und die ist ungesund. Also, die Normalisierung.
Verbindlichkeit baut nämlich Vertrauen auf. Ähnlich wie die Zuverlässigkeit hat sie aber in jüngerer Zeit offenbar an Bedeutung verloren. Im Bereich von Dating, sexuellen und Liebesbeziehungen ist das Thema inzwischen präsent, zum Beispiel hat Deutschlandfunk Nova dazu im vergangenen Oktober einen Beitrag veröffentlicht.
Das kann dann in »Benching« münden – die andere Person mit einer Hinhaltetaktik »auf die lange Bank schieben«, was das Jugendmagazin ze.tt der ZEIT schon vor fast acht Jahren als Problem benannte und was mittlerweile offenbar auch als »Fizzling« bezeichnet wird, wie der stern es im vergangenen Sommer thematisierte – oder in »Ghosting«.
Und das wiederum gibt’s inzwischen durchaus auch mehr und mehr im Nicht-Dating-Bereich. Wer sich aktuell um neue Jobs bemüht, wird es kennen: Selbst die mit größter Sorgfalt und Kreativität gestaltete Bewerbung wird oft genug (oder nein: zu oft) einfach ignoriert. Und selbst auf Nachfrage kommt nichts.
Abgesehen davon, dass all diese Verhaltens- oder Nichtverhaltensweisen für die Empfänger*innen Stress, Unsicherheit, Selbstzweifel auslösen können, die schlimmstenfalls ähnliche Wirkung haben können wie »Gaslighting«, wird dadurch auch Kommunikation unterbunden oder verhindert, eine Kulturtechnik, deren Beherrschung nicht einfach ist und kontinuierlich geübt werden muss.
Und aus der nicht mehr im nötigen Maß stattfindenden Kommunikation erwächst noch ein weiteres, gefährliches Phänomen: Die (Selbst-)Wahrnehmung der Gesellschaft verschiebt sich. Auf ZEIT ONLINE erschien im vergangenen August ein wirklich lesenswerter Artikel, »Der Zerfall« betitelt. Darin wurde eine seinerzeit neue Studie vorgestellt, die zum Beispiel feststellte: Nur 30 Prozent glauben, dass auch andere sich regelmäßig Gedanken um den Zusammenhalt machen, während 62 Prozent sagen, dass sie selbst das sehr wohl tun.
Wenn Menschen nicht mehr miteinander sprechen, neigen sie offenbar dazu, andere in einem wesentlich negativeren Licht zu sehen als sich selbst. Und wenn »Othering« schon auf der Makro-Ebene schlimm ist (Rassismus, Sexismus, Ableismus und so weiter), hat es auf der Mikro-Ebene zerstörerische Wirkung auf die Demokratie.
Was der derzeitige Höhenflug der Rechtsextremisten nachdrücklich und besorgniserregend zeigt.
Hier noch ein paar Fundstücke, die während der Recherche auftauchten und durchaus lesenswert sind: