Never confuse faith, or belief – of any kind – with something even remotely intellectual.

John Irving, A Prayer for Owen Meany (1989)

O Tempora.

3 Minuten Lesedauer
Kopiezeichnung einer Büste von Cicero aus dem Jahr 1885.
Bild: Wikipedia (gemeinfrei).

In diesem Blog werden gelegentlich auch Beiträge erscheinen, die nichts mit dem Beruf des Texters und/oder Webdesigners zu tun haben.

Einen Anfang macht dieser.


Seit dem Jahr 70 v. Chr., in dem der römische Politiker, Anwalt, Schriftsteller und Philosoph Cicero ihn zum ersten Mal verwendete, steht der Ausruf o tempora, o mores! für die Verzweiflung angesichts rapide um sich greifenden Sitten- und Moralverfalls.

Dass seitdem knapp 21 Jahrhunderte vergangen sind, ändert einerseits nichts an der Relevanz des Zitats, und andererseits ist seine Aktualität vielleicht sogar noch gestiegen.

Es begann mit der massenhaften Verbreitung von Smartphones und dem parallel verlaufenden Run auf Soziale Medien ab 2007. Schnell kamen schon damals Befürchtungen auf, die vermeintliche Anonymität im Netz verführe dazu, alle Höflichkeit (und das, was man im Web 1.0 »Netiquette« nannte) fahren zu lassen und schlechte Laune, Frustration und Hass auf andere ungefiltert in die Tastatur zu hacken.

Mit dem Beginn der COVID-19-Pandemie hat die ungezügelte Lust am (Be-)Schimpfen massiv zugenommen, aber noch ein weiteres Phänomen trat an ihre Seite: Die Entweder-Oderisierung des Diskurses.

Frei nach dem angeblich auf Jesus von Nazareth zurückgehenden Satz wer nicht für mich ist, ist gegen mich werden in den vergangenen Jahren immer massivere Fronten aufgebaut. Als wäre die Schraube einige Umdrehungen weiter angezogen, in Richtung der Sure 9:5 des Korans: (…) tötet die Götzendiener, wo immer ihr sie findet, ergreift sie, belagert sie und lauert ihnen aus jedem Hinterhalt auf!

Das riecht arg schweflig nach Mittelalter.

Als hätten wir Menschen in einem gewaltigen Satz rückwärts das Zeitalter der Aufklärung einfach übersprungen.

An dieser Stelle sei ein kurzer Blick nach oben an den Anfang dieser Seite empfohlen, genauer: das Irving-Zitat. Nicht im entferntesten intellektuell sei alles, was mit (religiösem oder sonstigem) Glauben zu tun hat. (Deutsche lesen in den Begriff »intellektuell« gern die sogenannte »höhere Bildung« hinein, aber im Englischen bedeutet es einfach hat mit dem Verstand zu tun).

Menschen handeln und äußern sich dieser Tage immer weniger verstandes-, sondern immer mehr instinktgesteuert, ausgehend von persönlichen Meinungen und Überzeugungen – komme, welch’ anderslautende wissenschaftliche Erkenntnis wolle. Und die »Götzendiener« aus dem Koran-Zitat oben – das sind alle, die anders glauben, fühlen, denken. Oder sind.

Two hands holding one another.
Bild: Ave Calvar via Unsplash.

Es gibt kaum noch Grautöne; die Dinge haben entweder weiß, oder aber schwarz zu sein. Dass es möglich ist, einen Aspekt einer Sache gutzuheißen und einen anderen als falsch zu erachten, dass menschliche Entscheidungen und Handlungen von zahlreichen, unterschiedlichsten Faktoren beeinflusst werden, die sich sogar gegenseitig widersprechen mögen, das scheint nur noch den wenigsten klar zu sein.

Wenn aber etwas für das Überleben der Demokratie absolut unerlässlich ist, dann eben gerade die Fähigkeit zum Sowohl-als-auch, zum Dialog, zum Kompromiss.

Zum Miteinander.

Und die Erkenntnis, dass die eigene Freiheit nur soweit reichen kann, wie sie die Freiheit anderer nicht beschneidet, oder gar erstickt.

Ja, das geht auch – und ganz besonders! – an euch Milliardäre, Millionäre, Erben, Unternehmenslenker, Lobbyisten … kurz: Kapitalisten.

 


 

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