Zahlen, bitte.

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Eine Person in Sandalen und knielanger weißer Hose, die nur bis zur Hüfte zu sehen ist, geht über eine Betonfläche, auf die mit weißer Farbe verschiedene Zahlen in Quadraten aufgemalt sind.
Bild: Markus Krisetya via Unsplash

In einem guten und lesenswerten aktuellen Interview in der ZEIT wird der Soziologe Linus Westheuser mit den Worten zitiert: Ein Bürgergeld, von dem man leben kann und das einen nicht zwingt, jeden Job annehmen zu müssen, verbessert die Verhandlungsposition der Arbeitenden, gerade in den unteren Einkommensgruppen. Es macht sie weniger erpressbar und zwingt die Arbeitgeber zu Kompromissen.

Wie wäre es denn statt »Bürgergeld« mit »Bedingungsloses Grundeinkommen« (BGE)?

Lässt sich nicht finanzieren?

Ha!

Wenn sämtliche rund rund 85 Millionen Einwohner*innen Deutschlands monatlich ein BGE von 1200 Euro bekämen, wären das im Jahr rund 1,2 Billionen.

Ähnlich viel, nämlich 1.161.499 Millionen Euro, zahlte der deutsche Staat im Jahr 2021 als Soziallei­stungen aus. Allerdings entfiel ein großer Teil davon auf den Bereich Krankheit, nämlich 395.290 Millionen. Diese rund 400 Milliarden fehlen also noch, um allen Einwohner*innen (einschließlich Babys, Kindern und Greis*innen, wohlgemerkt; jeder Person) ein Grundeinkommen bezahlen zu können.

Zusammen mit einer Reihe von Magazinen berichtete das ZDF im Dezember über eine Studie des Netzwerks Steuergerechtigkeit: »Deutschlands Milliardäre besitzen minde­stens 500 Milliarden Euro mehr als bisher angenommen.« Auch t-online war das eine Meldung wert: »Tatsächlich dürfte der Wert der deutschen Milliardenvermögen deshalb minde­stens etwa 1,4 Billionen Euro betragen – aber auch zwei Billionen erscheinen den Studienautoren nicht unplausibel.«

Eine Vermögen­steuer (die in Deutschland zuletzt 1997 eingenommen wurde) von 30 % auf die minde­stens 1,4 Billionen, über die schon allein die deutschen Milliardär*innen verfügen, könnte sich auf minde­stens 420 Milliarden summieren.

Et voilà.

Und da sind sämtliche Ideen anderer, viel klügerer Menschen noch gar nicht enthalten, wie die »negative Einkommen­steuer« oder Götz Werners Idee der Konsumbesteuerung.

tl;dr

Das Bedingungslose Grundeinkommen ist problemlos finanzierbar.


Abschließend sei hier zur besseren Veranschaulichung noch auf eine faszinierende Darstellung der Vermögensverhältnisse am Beispiel der USA hingewiesen, durchaus auf deutsche Verhältnisse übertragbar.

99 …

2 Minuten Lesedauer
Photo einer Ladenfassade im kalifornischen Jacksonville mit einem Schild, auf dem zu lesen ist: »Smithfield Fresh Pork Sausage, Pound 99 ¢«.
Bild: John Margolies via Library of Congress (gemeinfrei).

a)  
b)  
c)  

Auswertung

a) Stimmt schon, das ist einer der wenigen deutschen Popsongs, die wirklich international Wellen geschlagen haben.
War aber nicht gemeint.

b) Ist es nicht zu und zu seltsam, dass das menschliche Gehirn denkt, dass 0,99 signifikant weniger sei als 1,00 – ob Euro, Dollar oder Kilogramm?
Aber auch das war nicht gemeint.

Die richtige Antwort lautet:
c) — »Wir sind die 99 Prozent!«

Jede einzelne von uns hat es mit Entscheidungen, Äußerungen, Handlungen, Verweigerungen und vielem mehr in der Hand, die Geschicke der Welt – oder minde­stens des Landes, oder der Stadt, des Dorfes, der Nachbarschaft – zu beeinflussen und damit zu steuern.

Jede einzelne von uns gestaltet Politik bei den Wahlen, Wirtschaft mit Konsumverweigerung, Miteinander durch Kommunikation.

Jedes scheinbar noch so kleine Tun oder Lassen, Sagen oder Schweigen hat Auswirkungen.

Und zwar nicht im Sinne des »CO₂-Fußabdrucks«, dieses vom Öl-Multi BP massiv beworbenen und schon allein daher stark kritisierten, aber auch objektiv viel zu schwammigen Konzepts, mit dem Konzerne immer wieder versuchen, die Verantwortung für Umweltschäden von sich selbst auf die Verbraucher abzuwälzen.

Sondern im Sinne einer Wirkmächtigkeit, die jede einzelne von uns hat. Wer’s lieber neudeutsch hat: Es geht um Empowerment. Du kannst, ich kann, und zusammen können wir erst recht.

Und hier noch, nur am Rande zum Thema passend, eine umwerfende, zugleich faszinierende und erschreckende graphische Umsetzung der Wohlstandsverhältnisse auf der Welt, oder anders gesagt: dessen, was alles wir mit dem obszönen Reichtum des einen Prozents anstellen könnten (Spoiler: den größten Teil sämtlicher Probleme lösen): Wealth, shown to scale von Mark Korostoff. Viel Vergnügen beim Scrollen …

Kurz – und gut?

6 Minuten Lesedauer
Photo von schwarzen Shorts mit weißen Punkten, die an einer Wäscheleine hängen. Im Hintergrund grünes Laub, und im oberen Bereich ist durch ein Glasdach ein wenig Himmel zu sehen.
Bild: Niklas Hamann via Unsplash.

Ernst Piper, Professor für Neuere Geschichte, schrieb vor gut zwei Jahren für die Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) einen Artikel über die Weimarer Republik mit dem Titel »Gefährdete Stabilität 1924-1929«. (Leider wieder hochaktuell, Leseempfehlung!)

Wie mittlerweile üblich, steht am Anfang des Textes die geschätzte Lesedauer: 27 Minuten zu lesen.

Das ist vermutlich kein Rekord, aber zumindest am entgegengesetzten Ende von tl;dr.

Die Abkürzung ist im Internet weit verbreitet und bedeutet too long; didn’t read. Vermutlich zuerst 2002 verwendet, hat sie sich inzwischen für zwei Zwecke durchgesetzt: Einerseits, um zum Beispiel in einem Kommentar zu bemängeln oder zu spotten, ein Text sei zu lang, und andererseits, um einem langen Text eine Zusammenfassung voran- oder nachzustellen.

Aber was genau bedeutet dieses »zu lang«?

Und, im Sinne der Überschrift: Ist kurz wirklich immer gut? Oder gar besser?

Zum er­sten Punkt: Ob Leser*innen einen Text als zu lang empfinden, hängt zu einem guten Teil von ihren Lesegewohnheiten ab. Menschen, die sich hauptsächlich bei TikTok informieren (in Großbritannien sind das knapp 30 Prozent der Zwölf- bis 15-Jährigen […], [und] einer von zehn britischen Erwachsenen bezieht Nachrichten über die App), wird wahrscheinlich ein durchschnittlicher Blogbeitrag schon (zu) lang erscheinen, den Menschen, die regelmäßig sonntagvormittags die komplette ZEIT lesen, noch als kurz wahrnehmen.

Text-Seite einer Postkarte, eng beschrieben in alter deutscher Handschrift mit fast unleserlichem Text.
Bild: Private Postkarte von 1909 via Wikimedia Commons (gemeinfrei).

Gleichzeitig sind wir alle auch Spiegel der Gesellschaft, in der wir leben. Josephine Obert zum Beispiel ist Postkartenforscherin und sagte 2018 in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung: Die Texte werden immer kürzer.

Naja okay, mögen Sie sagen, auf Postkarten … Aber auch, beispielsweise, in Schulbüchern: Das österreichische Bundesmini­sterium für Unterricht, Kunst und Kultur schrieb schon 2002: Mit dem gesellschaftlichen und vor allem dem kom­mu­ni­ka­tions- und medientechnologischen Wandel der letzten Jahrzehnte haben sich viele Lesestoffe und hat sich auch das Lesen selbst verändert: Visuelle Darstellungsformen ergänzen immer häufiger und in immer mehr Bereichen unseres täglichen Lebens die Schriftlichkeit. (…) Lesen wandert zunehmend auf den Bildschirm, Texte werden kürzer und stärker gegliedert, auch in Schulbüchern werden zentrale Inhalte zunehmend visualisiert vermittelt.

Knappe Texte, viele hübsche, bunte Bilder: So verlieren Menschen schon früh ihre Konzentrationsfähigkeit, ihre Aufmerksamkeitsspanne wird immer geringer (angeblich sind es nur noch acht Sekunden, bis sie von etwas anderem abgelenkt werden), ihnen wird der »Fokus gestohlen«, wie eine These und ein Buchtitel des (nicht unumstrittenen, aber lesenswerten) Autors Johann Hari lauten.

Nur noch ein weiterer Vergleich: Auf der Titelseite der hannoverschen Tageszeitung »Norddeutscher Kurier« vom 26. November 1923 steht ein Text von rund 2 500 Wörtern Länge; eine durchschnittliche Lesegeschwindigkeit von 200 Wörtern pro Minute vorausgesetzt, stünde heute darüber: »Lesedauer 13 Minuten«. Und dieser Text macht nur etwa die Hälfte der Seite aus.

Tageszeitung. Titelseite.

Heute, 100 Jahre später: absolut unvorstellbar.

Kinder-Kreidezeichnung eines Hauses mit einem Apfelbaum und der Sonne, ungelenk mit weißer Kreide auf eine schwarze Tafel gezeichnet.
Bild: Mick Haupt via Unsplash.

Manche Zyniker (und auch nüchterne Forscher) sprechen schon seit einiger Zeit von einer zunehmenden Infantilisierung der Gesellschaft; die englische Originalausgabe des Buches »Wir amüsieren uns zu Tode« von Neil Postman erschien 1985. Darin wird die Grundidee von Aldous Huxleys »Brave New World« (»Schöne neue Welt«) weitergeführt, dass die Menschen sich freiwillig in Unfreiheit begeben, weil sie Lustbefriedigung und kurzweilige Unterhaltung ihrer eigenen Autonomie vorziehen.

Auch die Massenmedien (Print, Radio, TV und ihre jeweiligen Online-Ableger) reagieren auf wachsenden wirtschaftlichen Druck mit einer Anpassung ihres Journalismus an Publikumswünsche, indem sie immer häufiger Information und Unterhaltung, Öffentliches und Privates vermischen, wie eine hochinteressante Analyse der oben schon erwähnten bpb kon­statiert.

Und ein (englischsprachiger) Artikel aus diesem Jahr in The Guardian erwähnt viele weitere Faktoren, die Konzentration beeinflussen können, wie zum Beispiel die immer kürzer werdenden Schnittfolgen in Filmen und Serien – eine subtile, ganz und gar unbemerkte Manipulation menschlicher Wahrnehmung.

Nicht nur wird die individuelle Konzentrationsfähigkeit immer geringer, auch gesellschaftlich zeigt sich: Die kollektive Aufmerksamkeit nimmt ab, wie das Magazin Forschung & Lehre schon 2019 schrieb. Während 2013 ein Hashtag durchschnittlich 17,5 Stunden in der Top-50-Li­ste war, blieb er dort 2016 nur noch durchschnittlich 11,9 Stunden, heißt es da. Und in diesem Jahr beträgt die durchschnittliche Lebensdauer eines trending hashtags elf Minuten.

Auch das Max-Planck-In­stitut kam 2019 zu dem Schluss: Mit der Informationsflut sinkt die Aufmerksamkeitsspanne der Gesellschaft.

So, das war jetzt in gewisser Weise auch eine Informationsflut – wer’s bis hierher geschafft hat: Hut ab! 😎

Kehren wir zurück zur Überschrift und der zweiten sich stellenden Frage: Ist kurz gut?

Es wäre schön, könnte man diese Frage mit einem einfachen »Nein!« beantworten. Aber alle, die sich öffentlich äußern, sei es in Video- und Audiobeiträgen oder mit dem geschriebenen Wort, müssen sich zwangsläufig auch Gedanken machen darüber, wen sie wie erreichen wollen. Wem nützt es, einen ewig langen Artikel über ein Herzensthema zu schreiben, den niemand liest, weil: tl;dr?

Andererseits: Wem nützt es, wenn sich alle Schreibenden, alle Medien- und Journalismusschaffenden dem »neuen Normal« von maximal zwei Minuten Lesedauer unterordnen? Damit befördern sie schließlich einen Prozess, der schleichend, aber nachhaltig zu einer Entmündigung der Menschen führt. Denn eines ist sicher:

Nur wer imstande ist, komplexe Sachverhalte zu verstehen, ist auch imstande, komplexe Probleme zu lösen.¹

Wer sich nicht konzentrieren kann, wird zum Spielball fremder Interessen.

Wirtschaftlicher und politischer.

Anders ausgedrückt: Wer nicht gründlich, nüchtern und differenziert Für und Wider abwägen kann, kann auch nicht Demokratie.

Aber ohne Demokratie – das lässt sich schon seit einer Weile beobachten – fällt die Menschheit zurück in mittelalterliche Feudalstrukturen. In denen nur die Für­sten² Rechte haben, alle anderen aber entrechtetes Fußvolk sind.

Wollen wir Menschen das?

¹ Deswegen fällt es zum Beispiel vielen immer noch so schwer, die Tragweite der Klimakata­strophe anzuerkennen.

² Milliardäre, Millionäre, Konzernlenker, Venture Capitalists, Shareholder … Sie wissen schon.

Du Arme*r?

4 Minuten Lesedauer
Ein Einzelbild aus einem Little-Nemo-Comic von Winsor McCay; der kleine Nemo ist offensichtlich gerade aus dem Bett gefallen. Er liegt auf seinen Schultern, seine Beine ragen nach oben, sein Gesichtsausdruck ist erschrocken. Die Zeichnung ist einfach, aber trotzdem sehr künstlerisch.
Bild: Winsor McCay via Wikipedia (gemeinfrei).

Alle Morgen wieder – aufwachen wie Winsor McCays Little Nemo; alle Morgen wieder – die Gedanken noch zerknautschter als das Kissen, noch zerzauselter als das Haupthaar; alle Morgen wieder – im Hinterkopf das nagende Halbbewusstsein: Das wird anstrengend heute, wie ge­stern auch schon, wie morgen auch wieder, wie immer.

Kein guter Tagesbeginn, stimmt’s?

Aber wenn auch vielleicht ein kleines bisschen übertrieben, ist es doch ungefähr das, was viele Menschen im wohlhabenden We­sten empfinden. Tag für Tag.

Nicht die tatsächlich Wohlhabenden natürlich, die es sich im mittleren und gehobenen Management, an der Firmenspitze oder gleich in der geerbten Villa gemütlich gemacht haben. Aber doch all die Millionen, die from paycheck to paycheck leben, wie es auf Englisch heißt, oder von der Hand in den Mund.

Eine Person ist von hinten zu sehen. Sie trägt einen Rucksack und Pla­stiktüten und geht allein durchs nächtliche Düsseldorf.
Bild: AR via Unsplash.

Jetzt schätzen Sie mal: Wie viele sind das wohl so, hier, im reichen Deutschland?

Na?

 
 
 

Im Jahr 2022 waren laut Erstergebnissen des Mikrozensus insgesamt 20,9 Prozent der Bevölkerung in Deutschland von Armut oder sozialer Ausgrenzung betroffen, heißt es auf der Website von Statista.

20,9 %.

Ein Fünftel aller Deutschen, jede fünfte Person.

Zählen Sie mal durch im Supermarkt. Eins, zwei, drei, vier – und stop, diese Person ist arm, armutsgefährdet oder sozial ausgegrenzt, muss sich also überlegen, ob sie sich tatsächlich heute frisches Gemüse lei­sten kann, oder ob nicht der Rest Toastbrot auch irgendwie reicht.

Und weiter; sechs, sieben, acht, neun – da ist wieder eine. Auch dieses menschliche Wesen muss auf Teile seiner Menschenwürde verzichten, einfach nur deshalb, weil es mit dem Wohlstand der anderen nicht mithalten kann, aus welchen Gründen auch immer.

Bei Kindern und Jugendlichen müssen Sie übrigens nur bis vier zählen; von ihnen sind fast 25 % arm(utsgefährdet). Relativ gering ist der Unterschied zwischen Männern (20,1 %) und Frauen (21,6 %).

Noch zwei letzte Zahlen: Im vergangenen Jahr hatte Deutschland rund 84,5 Millionen Einwohner. Ein Fünftel davon sind 16,9 Millionen.

Eine Frau ist von der Seite zu sehen. Sie sieht nach unten und ihre Haare fallen ins Gesicht, so dass sie nicht zu erkennen ist. Die Szenerie ist dunkel und einsam.
Bild: Eric Ward via Unsplash.

Gut, dass im WERNERPRISE°-Blog (so gut wie) keine Schimpfwörter und Kraftausdrücke verwendet werden, sonst stünde hier gleich eine ganze Reihe von ihnen; viele direkt an den amtierenden Finanzmini­ster Christian Lindner gerichtet, der sich eines geschätzten Vermögens von 5,5 Millionen Euro und dazu eines monatlichen Mini­stergehalts von 20 000 Euro erfreut und allein im Jahr 2021 beim Finanzamt außerdem zusätzliche Nebeneinkünfte von 472 000 Euro angemeldet hat.

Wie heißt das Sprichwort doch so schön: Der Teufel scheißt immer auf den größten Haufen.

Kein Wunder, dass so jemand das Elterngeld kürzen will, die Zuschüsse zur gesetzlichen Renten- und Pflegeversicherung und auch die Mittel der Bundeszentrale für politische Bildung – aber weiterhin rund 65 Milliarden Euro pro Jahr für umwelt- und klimaschädliche Subventionen freigibt, wie das ZDF berichtete.

Kein Wunder auch, dass so jemand sich im staatsgläubigen Deutschland nicht wohl fühlt, wie er sich bei einer Rede vor dem In­stitut für Schweizer Wirtschaftspolitik beklagte. In Richtung seiner Gastgeber sagte der Multimillionär: (…) nachdem die politischen Realitäten mich zwingen, mit Sozialdemokraten und Grünen zu regieren, freue ich mich, die Luft der Freiheit zu atmen.

Ach wissen Sie, Herr Lindner, Sie sind herzlich eingeladen, in der so freiheitlichen Schweiz Ihr Domizil aufzuschlagen. Wir werden Sie hier nicht vermissen.

Zum Ausklang noch ein Link zur er­sten »Late Night« von Sarah Bosetti am 22.10., in der es ebenfalls um das Thema Armut ging. Besonders bemerkenswert war der Auftritt der #TaxMeNow-Mitbegründerin und Millionärin Marlene Engelhorn, die überzeugend darlegte, warum Spenden und andere Benefit-Aktionen seitens der Reichen keine Alternative zu öffentlichen Mitteln sind (weil sie der Willkür Tür und Tor öffnen) und warum sie will, dass sie und ihresgleichen endlich angemessen besteuert werden.

Bitte gucken. Die Aufzeichnung steht in der 3sat-Mediathek.

Letztes Jahr demon­strierten Engelhorn und ihre Mitstreiter beim Weltwirtschaftsforum in Davos. Auch das liegt in der Schweiz. Na, Herr Lindner, nicht doch lieber ein Häuschen dort statt im undankbaren Deutschland?

 

O Tempora.

3 Minuten Lesedauer
Kopiezeichnung einer Büste von Cicero aus dem Jahr 1885.
Bild: Wikipedia (gemeinfrei).

In diesem Blog werden gelegentlich auch Beiträge erscheinen, die nichts mit dem Beruf des Texters und/oder Webdesigners zu tun haben.

Einen Anfang macht dieser.


Seit dem Jahr 70 v. Chr., in dem der römische Politiker, Anwalt, Schriftsteller und Philosoph Cicero ihn zum ersten Mal verwendete, steht der Ausruf o tempora, o mores! für die Verzweiflung angesichts rapide um sich greifenden Sitten- und Moralverfalls.

Dass seitdem knapp 21 Jahrhunderte vergangen sind, ändert einerseits nichts an der Relevanz des Zitats, und andererseits ist seine Aktualität vielleicht sogar noch gestiegen.

Es begann mit der massenhaften Verbreitung von Smartphones und dem parallel verlaufenden Run auf Soziale Medien ab 2007. Schnell kamen schon damals Befürchtungen auf, die vermeintliche Anonymität im Netz verführe dazu, alle Höflichkeit (und das, was man im Web 1.0 »Netiquette« nannte) fahren zu lassen und schlechte Laune, Frustration und Hass auf andere ungefiltert in die Tastatur zu hacken.

Mit dem Beginn der COVID-19-Pandemie hat die ungezügelte Lust am (Be-)Schimpfen massiv zugenommen, aber noch ein weiteres Phänomen trat an ihre Seite: Die Entweder-Oderisierung des Diskurses.

Frei nach dem angeblich auf Jesus von Nazareth zurückgehenden Satz wer nicht für mich ist, ist gegen mich werden in den vergangenen Jahren immer massivere Fronten aufgebaut. Als wäre die Schraube einige Umdrehungen weiter angezogen, in Richtung der Sure 9:5 des Korans: (…) tötet die Götzendiener, wo immer ihr sie findet, ergreift sie, belagert sie und lauert ihnen aus jedem Hinterhalt auf!

Das riecht arg schweflig nach Mittelalter.

Als hätten wir Menschen in einem gewaltigen Satz rückwärts das Zeitalter der Aufklärung einfach übersprungen.

An dieser Stelle sei ein kurzer Blick nach oben an den Anfang dieser Seite empfohlen, genauer: das Irving-Zitat. Nicht im entferntesten intellektuell sei alles, was mit (religiösem oder sonstigem) Glauben zu tun hat. (Deutsche lesen in den Begriff »intellektuell« gern die sogenannte »höhere Bildung« hinein, aber im Englischen bedeutet es einfach hat mit dem Verstand zu tun).

Menschen handeln und äußern sich dieser Tage immer weniger verstandes-, sondern immer mehr instinktgesteuert, ausgehend von persönlichen Meinungen und Überzeugungen – komme, welch’ anderslautende wissenschaftliche Erkenntnis wolle. Und die »Götzendiener« aus dem Koran-Zitat oben – das sind alle, die anders glauben, fühlen, denken. Oder sind.

Two hands holding one another.
Bild: Ave Calvar via Unsplash.

Es gibt kaum noch Grautöne; die Dinge haben entweder weiß, oder aber schwarz zu sein. Dass es möglich ist, einen Aspekt einer Sache gutzuheißen und einen anderen als falsch zu erachten, dass menschliche Entscheidungen und Handlungen von zahlreichen, unterschiedlichsten Faktoren beeinflusst werden, die sich sogar gegenseitig widersprechen mögen, das scheint nur noch den wenigsten klar zu sein.

Wenn aber etwas für das Überleben der Demokratie absolut unerlässlich ist, dann eben gerade die Fähigkeit zum Sowohl-als-auch, zum Dialog, zum Kompromiss.

Zum Miteinander.

Und die Erkenntnis, dass die eigene Freiheit nur soweit reichen kann, wie sie die Freiheit anderer nicht beschneidet, oder gar erstickt.

Ja, das geht auch – und ganz besonders! – an euch Milliardäre, Millionäre, Erben, Unternehmenslenker, Lobbyisten … kurz: Kapitalisten.

 

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