99 …

2 Minuten Lesedauer
Photo einer Ladenfassade im kalifornischen Jacksonville mit einem Schild, auf dem zu lesen ist: »Smithfield Fresh Pork Sausage, Pound 99 ¢«.
Bild: John Margolies via Library of Congress (gemeinfrei).

a)  
b)  
c)  

Auswertung

a) Stimmt schon, das ist einer der wenigen deutschen Popsongs, die wirklich international Wellen geschlagen haben.
War aber nicht gemeint.

b) Ist es nicht zu und zu seltsam, dass das menschliche Gehirn denkt, dass 0,99 signifikant weniger sei als 1,00 – ob Euro, Dollar oder Kilogramm?
Aber auch das war nicht gemeint.

Die richtige Antwort lautet:
c) — »Wir sind die 99 Prozent!«

Jede einzelne von uns hat es mit Entscheidungen, Äußerungen, Handlungen, Verweigerungen und vielem mehr in der Hand, die Geschicke der Welt – oder minde­stens des Landes, oder der Stadt, des Dorfes, der Nachbarschaft – zu beeinflussen und damit zu steuern.

Jede einzelne von uns gestaltet Politik bei den Wahlen, Wirtschaft mit Konsumverweigerung, Miteinander durch Kommunikation.

Jedes scheinbar noch so kleine Tun oder Lassen, Sagen oder Schweigen hat Auswirkungen.

Und zwar nicht im Sinne des »CO₂-Fußabdrucks«, dieses vom Öl-Multi BP massiv beworbenen und schon allein daher stark kritisierten, aber auch objektiv viel zu schwammigen Konzepts, mit dem Konzerne immer wieder versuchen, die Verantwortung für Umweltschäden von sich selbst auf die Verbraucher abzuwälzen.

Sondern im Sinne einer Wirkmächtigkeit, die jede einzelne von uns hat. Wer’s lieber neudeutsch hat: Es geht um Empowerment. Du kannst, ich kann, und zusammen können wir erst recht.

Und hier noch, nur am Rande zum Thema passend, eine umwerfende, zugleich faszinierende und erschreckende graphische Umsetzung der Wohlstandsverhältnisse auf der Welt, oder anders gesagt: dessen, was alles wir mit dem obszönen Reichtum des einen Prozents anstellen könnten (Spoiler: den größten Teil sämtlicher Probleme lösen): Wealth, shown to scale von Mark Korostoff. Viel Vergnügen beim Scrollen …

Scheinbar ≠ anscheinend.

< 1 Minute Lesedauer

Dies wird ein kurzer Beitrag; eher eine Art PSA oder Eselsbrücke.

Viele, sehr viele Menschen verwenden die beiden Begriffe aus der Überschrift synonym, also so, als hätten sie dieselbe Bedeutung. Das ist aber falsch.

Das sagt der Duden:
scheinbar — aufgrund einer Täuschung wirklich, als Tatsache erscheinend, aber in Wahrheit nicht wirklich gegeben

Die Eselsbrücke besteht aus einem zusätzlichen Wort, nämlich nur. Die Beispiele des Duden:
— das ist nur ein scheinbarer Widerspruch
— er ist nur scheinbar unabhängig

Es scheint also nur so.

Das Adverb anscheinend andererseits, schreibt der Duden, besagt, dass etwas allem Anschein nach tatsächlich so ist, wie es sich darstellt.

Es sieht also so aus, als wäre es wirklich so.

Nochmal die Eselsbrücke: Es käme wohl niemand auf die Idee, nur anscheinend zu sagen oder schreiben. Also immer ausprobieren: Wenn es zusammen mit nur richtig klingt, dann ist es scheinbar und nicht wirklich.
Wenn das nur keinen Sinn ergibt, dann ist es anscheinend, also sehr wahrscheinlich wirklich.

Bitte schön.

Verbunden ≠ verbindlich.

5 Minuten Lesedauer
Ein Spinnennetz im Wald. Durch Morgentau an den Fäden ist es besonders gut zu erkennen. Der Hintergrund ist unscharf, Grün- und Brauntöne überwiegen.
Bild: Robert Anasch via Unsplash.

Seit Mitte der Neunziger das Internet allmählich allen zugänglich wurde, und erst recht seit 2007, als mit der Einführung des iPhone das Internet in die Hosentasche passte und jetzt überall hin mitgenommen wird, sind wir Menschen immer mehr miteinander vernetzt.

Wir stehen also in engerem Kontakt und sind uns näher gekommen.

Oder?

Im Lauf der vergangenen zwanzig Jahre häufen sich Untersuchungen, Artikel, auch persönliche Berichte darüber, dass das Gefühl von Vereinzelung und Isolation, von »Ich und die anderen« zunehme. Ist das nicht ein Widerspruch?

Nicht unbedingt. Denn die Art, wie wir uns verbinden und vernetzen, hat sich in ihrer Qualität verändert. Dabei bedeutet »Qualität« erst einmal keine Wertung, sondern einfach »Summe von Eigenschaften«.

Die allermeisten Menschen kommunizieren heute auf vielfältige Weise; Chats wie WhatsApp, Social Media und E-Mail sind vielen vertraut. Nicht mehr vertraut ist ihnen zum Beispiel das Telephon. Das live und direkt miteinander Sprechen hat mittlerweile einen schlechten Ruf. Anstrengend, unterbrechend, invasiv – und unnötig.

Dabei ist aber das Bedürfnis nach dem gesprochenen Wort natürlich nicht verloren gegangen. Es wird nur anders ausgelebt: mit manchmal viertelstundenlangen Sprachnachrichten zum Beispiel. Der große – scheinbare – Vorteil: Die sprechende Person kann ihre Gedanken loswerden, ohne von der zuhörenden Person unterbrochen zu werden und so den roten Faden zu verlieren. Alle anderen Vorteile, die zum Beispiel dieser (englischsprachige) Artikel nennt, gelten gleichermaßen für Telephongespräche.

Der – tatsächliche – Nachteil liegt eigentlich auf der Hand, wird aber offenbar von vielen ignoriert oder für unwichtig gehalten: So passiert kein Austausch. Das lebendige Gespräch zwischen Menschen lebt vom Geben und Nehmen, von Einwänden, Ergänzungen, von Zu- und auch Widerspruch.

Ähnlich ist es inzwischen mit Verabredungen: Ich weiß doch jetzt noch nicht, ob ich übermorgen Zeit und Lust habe! Lass uns noch mal texten. Ich häng gerade noch bei Ellen, wird wohl später. Klingt super, nach Freiheit und Flexibilität.

Oder doch nicht?

Natürlich kann es manchmal unbefriedigend sein, eine Verabredung im Nacken zu haben – zum Beispiel, wenn sich ein anderes Treffen als besonders und unerwartet inspirierend erweist, oder wenn es im Job mal wieder länger dauert.

Aber sich gleich gar nicht mehr zu verabreden und immer nur auf (digitalen) Zuruf zu treffen, führt zu einer Normalisierung der Unverbindlichkeit. Und die ist ungesund. Also, die Normalisierung.

Verbindlichkeit baut nämlich Vertrauen auf. Ähnlich wie die Zuverlässigkeit hat sie aber in jüngerer Zeit offenbar an Bedeutung verloren. Im Bereich von Dating, sexuellen und Liebesbeziehungen ist das Thema inzwischen präsent, zum Beispiel hat Deutschlandfunk Nova dazu im vergangenen Oktober einen Beitrag veröffentlicht.

Das kann dann in »Benching« münden – die andere Person mit einer Hinhaltetaktik »auf die lange Bank schieben«, was das Jugendmagazin ze.tt der ZEIT schon vor fast acht Jahren als Problem benannte und was mittlerweile offenbar auch als »Fizzling« bezeichnet wird, wie der stern es im vergangenen Sommer thematisierte – oder in »Ghosting«.

Und das wiederum gibt’s inzwischen durchaus auch mehr und mehr im Nicht-Dating-Bereich. Wer sich aktuell um neue Jobs bemüht, wird es kennen: Selbst die mit größter Sorgfalt und Kreativität gestaltete Bewerbung wird oft genug (oder nein: zu oft) einfach ignoriert. Und selbst auf Nachfrage kommt nichts.

Eine Collage, in der eine freie Fläche zwischen gelben Post-it-Zetteln eine Sprechblase darstellt, in deren Mitte drei zusammengeknüllte, ebenfalls gelbe Zettel drei Punkte ergeben. Der Hintergrund ist grün.
Bild: Volodymyr Hryshchenko via Unsplash.

Abgesehen davon, dass all diese Verhaltens- oder Nichtverhaltensweisen für die Empfänger*innen Stress, Unsicherheit, Selbstzweifel auslösen können, die schlimmstenfalls ähnliche Wirkung haben können wie »Gaslighting«, wird dadurch auch Kommunikation unterbunden oder verhindert, eine Kulturtechnik, deren Beherrschung nicht einfach ist und kontinuierlich geübt werden muss.

Und aus der nicht mehr im nötigen Maß stattfindenden Kommunikation erwächst noch ein weiteres, gefährliches Phänomen: Die (Selbst-)Wahrnehmung der Gesellschaft verschiebt sich. Auf ZEIT ONLINE erschien im vergangenen August ein wirklich lesenswerter Artikel, »Der Zerfall« betitelt. Darin wurde eine seinerzeit neue Studie vorgestellt, die zum Beispiel feststellte: Nur 30 Prozent glauben, dass auch andere sich regelmäßig Gedanken um den Zusammenhalt machen, während 62 Prozent sagen, dass sie selbst das sehr wohl tun.

Wenn Menschen nicht mehr miteinander sprechen, neigen sie offenbar dazu, andere in einem wesentlich negativeren Licht zu sehen als sich selbst. Und wenn »Othering« schon auf der Makro-Ebene schlimm ist (Rassismus, Sexismus, Ableismus und so weiter), hat es auf der Mikro-Ebene zerstörerische Wirkung auf die Demokratie.

Was der derzeitige Höhenflug der Rechtsextremisten nachdrücklich und besorgniserregend zeigt.


Hier noch ein paar Fundstücke, die während der Recherche auftauchten und durchaus lesenswert sind:

Unsmart.

2 Minuten Lesedauer
Schwarz-weiß-Photo eines zerbrochenen Smartphones mit der Azeige »ERROR 404«, einer typischen Internet-Fehlermeldung für nicht erreichbare Inhalte.
Bild: Kostiantyn Li via Unsplash.

Dieses Blog vermeidet die Ich-Perspektive, denn die mei­sten der hier behandelten Themen sind von allgemeinem Interesse. Naja, hoffentlich zumindest. Aber in diesem Fall gehe ich zum »Ich« über, denn mein Verhältnis zu modernen Mobiltelephonen ist ausgesprochen un-allgemein.

Ich habe nämlich keins.

Nie eins gehabt.

Na gut, abgesehen vom Handspring Treo 180g vor fast zwanzig Jahren (damals noch Early Adopter), das inzwischen einen Platz im Museum hat. Und nach heutigen Maßstäben sicher nicht als »Smart«phone durchgehen würde.

Das »Smarte« an den seit 2007 (mit der Einführung des iPhones) wie eine Tsunamiwelle die Welt überschwemmenden Phones ist, dass sie alles können (oder wenig­stens behaupten, alles zu können), dafür aber leider auch alles wollen. Beispiele sind:

Daten sind auf Handys nicht sicher. Zumindest nicht in der Grundeinstellung. Und die sehr unvollständige Li­ste oben zeigt, dass es viel zu bedenken gäbe, um das Gerät auch nur halbwegs datensicher zu bekommen. So viel, dass es wohl als zweifelsfrei gelten darf, dass sich die mei­sten Menschen nur eines kleinen Teils der nötigen Maßnahmen bewusst sind. Beispielhaft sei daran erinnert, wie vor zehn Jahren eine Taschenlampen-App für Android Daten sammelte und verkaufte.

Eine Taschenlampe. 🔦

Sehr buntes Photo aus dem Inneren eines Süßwarengeschäfts; von der Decke hängen riesige Lollys, in Regalen sind kleine Süßigkeiten aufgehäuft. Vorherrschender Farbton ist Rosa.
Bild: Iwona Castiello d’Antonio via Unsplash.

Zu den Sicherheitsbedenken kommt aber noch ein weiterer Faktor: Handys sind süchtigmachende Verführer. Die massiv die Psyche ihrer Nutzer*innen manipulieren. Dazu hatte ich neulich schon den Beitrag Außen hui. gepo­stet, deswegen werde ich mich hier nicht wiederholen.

Mein Fazit: Ein Leben ohne Handy ist möglich. Und es ist deutlich stressfreier als eines mit.

Allerdings muss ich zugeben, dass es an manchen Stellen manchmal ein bisschen hakt – zum Beispiel bei der Zwei-Faktor-Authentifizierung (2FA). Die nämlich in den allermei­sten Fällen ein Mobilgerät selbstverständlich voraussetzt.

Wer 2FA einsetzen will oder sogar muss (bei PayPal zum Beispiel geht es nicht mehr anders) und kein Smartphone besitzt, muss je nach Anbieter verschiedene Software- oder sogar Hardware-Lösungen einsetzen. Das Worst-case-Scenario kann sein, dass für fünf verschiedene mit 2FA abgesicherte Services auch fünf verschiedene USB-Keys angeschafft werden müssen.

Aber: Es gibt Schlimmeres. Zum Beispiel, wenn Google (oder Apple) weiß, was ich letzten Sommer getan habe. Und wo. Und mit wem. Und wie lange. Und wie es mir gefallen hat. Und deswegen weiß, was ich näch­ste Woche tun werde. Und wo. Und mit wem. Und wie lange. Und wie es mir gefallen wird.

(Nein, das ist leider keine Science-Fiction. Hier ein kurzes Video des Wall Street Journals von 2015. Und in acht Jahren hat sich erwartungsgemäß viel getan.)

Mit herzlichen Grüßen aus der Zukunft verbleibe ich auch weiterhin,
Thomas Werner, handylos.

Kurz – und gut?

6 Minuten Lesedauer
Photo von schwarzen Shorts mit weißen Punkten, die an einer Wäscheleine hängen. Im Hintergrund grünes Laub, und im oberen Bereich ist durch ein Glasdach ein wenig Himmel zu sehen.
Bild: Niklas Hamann via Unsplash.

Ernst Piper, Professor für Neuere Geschichte, schrieb vor gut zwei Jahren für die Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) einen Artikel über die Weimarer Republik mit dem Titel »Gefährdete Stabilität 1924-1929«. (Leider wieder hochaktuell, Leseempfehlung!)

Wie mittlerweile üblich, steht am Anfang des Textes die geschätzte Lesedauer: 27 Minuten zu lesen.

Das ist vermutlich kein Rekord, aber zumindest am entgegengesetzten Ende von tl;dr.

Die Abkürzung ist im Internet weit verbreitet und bedeutet too long; didn’t read. Vermutlich zuerst 2002 verwendet, hat sie sich inzwischen für zwei Zwecke durchgesetzt: Einerseits, um zum Beispiel in einem Kommentar zu bemängeln oder zu spotten, ein Text sei zu lang, und andererseits, um einem langen Text eine Zusammenfassung voran- oder nachzustellen.

Aber was genau bedeutet dieses »zu lang«?

Und, im Sinne der Überschrift: Ist kurz wirklich immer gut? Oder gar besser?

Zum er­sten Punkt: Ob Leser*innen einen Text als zu lang empfinden, hängt zu einem guten Teil von ihren Lesegewohnheiten ab. Menschen, die sich hauptsächlich bei TikTok informieren (in Großbritannien sind das knapp 30 Prozent der Zwölf- bis 15-Jährigen […], [und] einer von zehn britischen Erwachsenen bezieht Nachrichten über die App), wird wahrscheinlich ein durchschnittlicher Blogbeitrag schon (zu) lang erscheinen, den Menschen, die regelmäßig sonntagvormittags die komplette ZEIT lesen, noch als kurz wahrnehmen.

Text-Seite einer Postkarte, eng beschrieben in alter deutscher Handschrift mit fast unleserlichem Text.
Bild: Private Postkarte von 1909 via Wikimedia Commons (gemeinfrei).

Gleichzeitig sind wir alle auch Spiegel der Gesellschaft, in der wir leben. Josephine Obert zum Beispiel ist Postkartenforscherin und sagte 2018 in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung: Die Texte werden immer kürzer.

Naja okay, mögen Sie sagen, auf Postkarten … Aber auch, beispielsweise, in Schulbüchern: Das österreichische Bundesmini­sterium für Unterricht, Kunst und Kultur schrieb schon 2002: Mit dem gesellschaftlichen und vor allem dem kom­mu­ni­ka­tions- und medientechnologischen Wandel der letzten Jahrzehnte haben sich viele Lesestoffe und hat sich auch das Lesen selbst verändert: Visuelle Darstellungsformen ergänzen immer häufiger und in immer mehr Bereichen unseres täglichen Lebens die Schriftlichkeit. (…) Lesen wandert zunehmend auf den Bildschirm, Texte werden kürzer und stärker gegliedert, auch in Schulbüchern werden zentrale Inhalte zunehmend visualisiert vermittelt.

Knappe Texte, viele hübsche, bunte Bilder: So verlieren Menschen schon früh ihre Konzentrationsfähigkeit, ihre Aufmerksamkeitsspanne wird immer geringer (angeblich sind es nur noch acht Sekunden, bis sie von etwas anderem abgelenkt werden), ihnen wird der »Fokus gestohlen«, wie eine These und ein Buchtitel des (nicht unumstrittenen, aber lesenswerten) Autors Johann Hari lauten.

Nur noch ein weiterer Vergleich: Auf der Titelseite der hannoverschen Tageszeitung »Norddeutscher Kurier« vom 26. November 1923 steht ein Text von rund 2 500 Wörtern Länge; eine durchschnittliche Lesegeschwindigkeit von 200 Wörtern pro Minute vorausgesetzt, stünde heute darüber: »Lesedauer 13 Minuten«. Und dieser Text macht nur etwa die Hälfte der Seite aus.

Tageszeitung. Titelseite.

Heute, 100 Jahre später: absolut unvorstellbar.

Kinder-Kreidezeichnung eines Hauses mit einem Apfelbaum und der Sonne, ungelenk mit weißer Kreide auf eine schwarze Tafel gezeichnet.
Bild: Mick Haupt via Unsplash.

Manche Zyniker (und auch nüchterne Forscher) sprechen schon seit einiger Zeit von einer zunehmenden Infantilisierung der Gesellschaft; die englische Originalausgabe des Buches »Wir amüsieren uns zu Tode« von Neil Postman erschien 1985. Darin wird die Grundidee von Aldous Huxleys »Brave New World« (»Schöne neue Welt«) weitergeführt, dass die Menschen sich freiwillig in Unfreiheit begeben, weil sie Lustbefriedigung und kurzweilige Unterhaltung ihrer eigenen Autonomie vorziehen.

Auch die Massenmedien (Print, Radio, TV und ihre jeweiligen Online-Ableger) reagieren auf wachsenden wirtschaftlichen Druck mit einer Anpassung ihres Journalismus an Publikumswünsche, indem sie immer häufiger Information und Unterhaltung, Öffentliches und Privates vermischen, wie eine hochinteressante Analyse der oben schon erwähnten bpb kon­statiert.

Und ein (englischsprachiger) Artikel aus diesem Jahr in The Guardian erwähnt viele weitere Faktoren, die Konzentration beeinflussen können, wie zum Beispiel die immer kürzer werdenden Schnittfolgen in Filmen und Serien – eine subtile, ganz und gar unbemerkte Manipulation menschlicher Wahrnehmung.

Nicht nur wird die individuelle Konzentrationsfähigkeit immer geringer, auch gesellschaftlich zeigt sich: Die kollektive Aufmerksamkeit nimmt ab, wie das Magazin Forschung & Lehre schon 2019 schrieb. Während 2013 ein Hashtag durchschnittlich 17,5 Stunden in der Top-50-Li­ste war, blieb er dort 2016 nur noch durchschnittlich 11,9 Stunden, heißt es da. Und in diesem Jahr beträgt die durchschnittliche Lebensdauer eines trending hashtags elf Minuten.

Auch das Max-Planck-In­stitut kam 2019 zu dem Schluss: Mit der Informationsflut sinkt die Aufmerksamkeitsspanne der Gesellschaft.

So, das war jetzt in gewisser Weise auch eine Informationsflut – wer’s bis hierher geschafft hat: Hut ab! 😎

Kehren wir zurück zur Überschrift und der zweiten sich stellenden Frage: Ist kurz gut?

Es wäre schön, könnte man diese Frage mit einem einfachen »Nein!« beantworten. Aber alle, die sich öffentlich äußern, sei es in Video- und Audiobeiträgen oder mit dem geschriebenen Wort, müssen sich zwangsläufig auch Gedanken machen darüber, wen sie wie erreichen wollen. Wem nützt es, einen ewig langen Artikel über ein Herzensthema zu schreiben, den niemand liest, weil: tl;dr?

Andererseits: Wem nützt es, wenn sich alle Schreibenden, alle Medien- und Journalismusschaffenden dem »neuen Normal« von maximal zwei Minuten Lesedauer unterordnen? Damit befördern sie schließlich einen Prozess, der schleichend, aber nachhaltig zu einer Entmündigung der Menschen führt. Denn eines ist sicher:

Nur wer imstande ist, komplexe Sachverhalte zu verstehen, ist auch imstande, komplexe Probleme zu lösen.¹

Wer sich nicht konzentrieren kann, wird zum Spielball fremder Interessen.

Wirtschaftlicher und politischer.

Anders ausgedrückt: Wer nicht gründlich, nüchtern und differenziert Für und Wider abwägen kann, kann auch nicht Demokratie.

Aber ohne Demokratie – das lässt sich schon seit einer Weile beobachten – fällt die Menschheit zurück in mittelalterliche Feudalstrukturen. In denen nur die Für­sten² Rechte haben, alle anderen aber entrechtetes Fußvolk sind.

Wollen wir Menschen das?

¹ Deswegen fällt es zum Beispiel vielen immer noch so schwer, die Tragweite der Klimakata­strophe anzuerkennen.

² Milliardäre, Millionäre, Konzernlenker, Venture Capitalists, Shareholder … Sie wissen schon.

WERNERPRISE° — Das Blog.