Reförmchen.

5 Minuten Lesedauer
Eine sehr alte, schwarze Schreibmaschine mit gelbem Firmenschriftzug »Corona« und einem schwarz-roten Farbband.
Bild: Johnny Briggs via Unsplash.

Wer das WERNERPRISE°-Blog aufmerksam liest, wird schon gesehen haben, dass manchmal ungewohnte Schreibweisen auftauchen.

Das sind keine Flüchtigkeitsfehler (also, zumindest normalerweise nicht).

Hier folgt ein kleiner Blick in den Rückspiegel, genauer, ins Jahr 1996. Da trat die große Rechtschreibreform deutschsprachiger Länder in Kraft. Natürlich nicht aus heiterem Himmel; vorausgegangen waren seit 1980 Gespräche, Konferenzen, zahlreiche Vorschläge (von denen glücklicherweise viele, wie Keiser statt Kaiser und Bot statt Boot, nicht aus den Kinderschuhen herauswuchsen).

Seitdem ist mehr als ein Vierteljahrhundert vergangen, im Laufe dessen immer wieder Reformen der Reform vorgenommen wurden, so dass sie mittlerweile wirklich nur noch den Titel »Reförmchen« verdient. Sehr vieles, was zwischen ’96 und 2006 verbindliche Neuschreibung war, wurde zur Kann-Regel zurückentwickelt. Inzwischen geht wieder vieles, und das ist auch besser so.

Einiges geht trotzdem nicht. Also, zumindest nicht offiziell. Hier aber schon!

  1. Siebzehn Mal wurde sein Antrag abgelehnt (…) — nope¹, lieber Duden, darauf kannst du noch so sehr bestehen, bei WERNERPRISE° heißt es weiterhin wie früher siebzehn mal oder siebzehnmal. Das großgeschriebene Mal kennzeichnet ein Ereignis und ist als solches ein Nomen, also großzuschreiben, das stimmt (Nur dieses eine Mal noch, schwor sie sich). Aber das mal([nehm]en) mit Zahlen ist eine mathematische Angelegenheit. Kein*e Mathelehrer*in käme wohl auf die Idee, wieviel ist 3 Mal 7 an die Tafel zu schreiben. Da könnte ja jede*r kommen und wieviel ist 21 Geteilt Durch 3 schreiben.
  2. Noch mal Groß- und Kleinschreibung: Wenn nach einer Reform etwas nicht mehr logisch ist, dann ist die Reform nicht logisch. Wieso sollte es die beiden, aber die Einzigen heißen? In dieser Verwendung ist einzige ein Pronomen, steht also stellvertretend für ein Nomen (das vorher vorkommt oder auch nicht). Hier heißt es weiter die einzigen.
  3. In Zeiten, in denen es üblich ist, sieben bis siebzehn Feuer-Emojis 🔥 🔥 🔥 unter einen Post zu setzen, klingt die Devise weniger ist mehr vielleicht komisch, aber: Dreifach-Konsonanten sind ästhe­tische Unfälle. So wichtig (und beäng­stigend) die Kippunkte in der Klimadebatte auch sind, Kipppunkte sind sie trotzdem nicht, und die Schiffahrt kommt auch be­stens ohne drittes F aus.
    (Übrigens stehen auch Satzzeichen ungern in größeren Gruppen zusammen, ganz unabhängig von irgendeiner Reform: Das Fragezeichen sollte überhaupt nur einfach verwendet werden, das Ausrufezeichen höch­stens dreimal², und die Kombination aus beiden gibt es nur in genau einer Form: »?!«

¹ € 5 in die Anglizismuskasse!
² Obwohl die noch relativ junge Variante !!!1!1!111!! zugegebenermaßen lu­stig ist …

Und hier noch einige Kann-Regeln, bei denen die bevorzugte Schreibweise des Dudens von WERNERPRISE° mit Nachdruck ignoriert wird:

Ein Delphin springt kraftvoll aus spritzenden Wellen empor.
Bild: Flavio via Unsplash.
  1. Wir fotografierten mit unseren Telefonen Delfine, während Dörte Saxofon spielte. Mag sein, aber nicht in diesem Blog. Hier wird photographiert, telephoniert, Saxophon gespielt, und Delphine werden leider nur auf dem Bildschirm beobachtet. Aber das schöne, aus dem Griechischen stammende PH bleibt bitte, und sei es nur aus philosophischen Gründen (die nämlich nach wie vor nicht mit F geschrieben werden – siehe oben, Kinderschuhe; es stand auch mal die »Filosofie« zur Debatte).
  2. Unsere Kleine ist schon sehr selbstständig! Das ist schön, aber nur inhaltlich – viele nicht Deutsch sprechende Menschen mögen unsere Sprache vor allem deswegen nicht, weil sie so hart und zackig zischend ist. Ein doppeltes ST macht uns in Griechenland oder Frankreich nicht gerade beliebter. Und, mal ehrlich: Es klingt wirklich ein bisschen gemein und sieht noch nicht mal gut aus. Also bleibt’s hier bei selb­ständig.
  3. (Am Rande, weil’s gerade passt: Heutzutage wird die Buchstabenkombination st getrennt, wenn sie an ein Zeilenende fällt. Früher hieß es: Trenne nie ST, denn es tut ihm weh! Was natürlich Quatsch ist, Buchstaben sind mit hoher Wahrscheinlichkeit schmerzunempfindlich. Aber hier wird die alte Regel weiter befolgt, und zwar ganz ohne Begründung, einfach nur weil: is’ schöner. Es funktioniert be-stens statt bes-tens, das kennen die mei-sten statt meis-ten. Zugegeben: Geschmackssache. Aber darüber lässt sich bekanntlich nicht streiten. Und die Website schriftdeutsch.de hat noch eine zusätzliche und bessere Erklärung; Wachs-tube, lol!)

Eine der ganz, ganz wenigen wirklich überzeugenden Post-Reform-Regelungen ist die Unterscheidung, wann das Doppel-S und wann das ß einzusetzen sind.

(Falls sich jemand nicht sicher ist: Ein kurzer Vokal vor dem scharfen S will ein Doppel-S [sie wissen], ein langer oder ein Doppel-Vokal das ß [sie weiß]. Seitdem kann man prima zwischen dem bayerischen Exzessgefäß, das gleich einen ganzen Liter Bier fasst [Mass], und dem unterscheiden, mit dem gemessen wird [Maß]).

P.S.: Wenn WERNERPRISE° für Kunden arbeitet, haben selbstverständlich deren Vorlieben Vorrang!

Scheinbar ≠ anscheinend.

< 1 Minute Lesedauer

Dies wird ein kurzer Beitrag; eher eine Art PSA oder Eselsbrücke.

Viele, sehr viele Menschen verwenden die beiden Begriffe aus der Überschrift synonym, also so, als hätten sie dieselbe Bedeutung. Das ist aber falsch.

Das sagt der Duden:
scheinbar — aufgrund einer Täuschung wirklich, als Tatsache erscheinend, aber in Wahrheit nicht wirklich gegeben

Die Eselsbrücke besteht aus einem zusätzlichen Wort, nämlich nur. Die Beispiele des Duden:
— das ist nur ein scheinbarer Widerspruch
— er ist nur scheinbar unabhängig

Es scheint also nur so.

Das Adverb anscheinend andererseits, schreibt der Duden, besagt, dass etwas allem Anschein nach tatsächlich so ist, wie es sich darstellt.

Es sieht also so aus, als wäre es wirklich so.

Nochmal die Eselsbrücke: Es käme wohl niemand auf die Idee, nur anscheinend zu sagen oder schreiben. Also immer ausprobieren: Wenn es zusammen mit nur richtig klingt, dann ist es scheinbar und nicht wirklich.
Wenn das nur keinen Sinn ergibt, dann ist es anscheinend, also sehr wahrscheinlich wirklich.

Bitte schön.

Komma her!

3 Minuten Lesedauer
Bild eines orange-gelben Schmetterlings mit braunen Mustern auf einem weiß-grauen Stein vor unscharfem, grünen Hintergrund.
Polygonia comma.
Bild: Erik Karits via Unsplash.

Es gibt Dinge in der Sprache, die werden immer seltener. Über den rapidissimo aussterbenden Bindestrich wird es hier demnächst einen eigenen Beitrag geben¹, aber auch das Komma ist im Schwinden begriffen.

Sehr, sehr leider.

Zwischen vollständigen Hauptsätzen, die mit und, oder, entweder – oder, weder – noch oder beziehungsweise verbunden sind, kann ein Komma stehen – muss aber nicht.

Sollte aber.

(Auch wenn der Duden das »Muss nicht« eine gute Nachricht nennt.)

Merke: Einfach angewöhnen, immer setzen. Es darf ja.

So vermeidet man Satz-Ungetüme wie dieses: Sie hatte sich so auf die Feiertage gefreut und ihre Eltern wollten sie so gerne sehen und sie waren auch neugierig auf ihren neuen Freund. Atemlose Kindersprache.

Oder: Entweder das letzte Bier war schlecht gewesen oder er hatte sich ein Magen-und-Darm-Virus eingefangen und die Haferflocken mit einem Haltbarkeitsdatum aus dem vergangenen Jahr rochen auch schon etwas ranzig. Katerverwirrte Post-Party-Sprache.

Ist übrigens auch logischer, denn, noch mal der Duden: Werden vollständige Hauptsätze durch sogenannte adversative Konjunktionen verknüpft, d. h. Konjunktionen, die einen Gegensatz ausdrücken, muss immer ein Komma gesetzt werden.

Wieso, weshalb, warum? Ich gehe und du läufst ist richtig, Ich gehe aber du läufst ist falsch? Um den deutschen Komiker (und hervorragenden Musiker!) Helge Schneider zu zitieren: Alberner Duden!

Also bitte: Ich gehe, und du läufst. Ich gehe, aber du läufst.

Noch wichtiger, und tatsächlich auch keine Kann-, sondern eine Muss-Regel: Eingeschobene Nebensätze werden mit einem Komma eingeleitet und mit einem weiteren beendet.

Also bitte nicht schreiben: Ich treffe eine Freundin, die ich lange nicht gesehen habe und wir gehen ans Meer. Sondern: Ich treffe eine Freundin, die ich lange nicht gesehen habe, und wir gehen ans Meer.

Zum Schluss noch eine weitere Opposition gegen den Duden: Dort steht nämlich ausdrücklich, dass bei weder – noch kein Komma zu setzen sei (im Widerspruch zum weiter oben verlinkten Artikel ürigens). Und dann kommt ein Beispielsatz, bei dem die WERNERPRISE°-Redaktion die Hände über dem Kopf zusammenschlägt: Ich beherrsche weder die boolesche Algebra noch die lateinischen Stammformen noch den Bassnotenschlüssel noch die Abseitsregel.

Was für ein unattraktiver Bandwurm!

Hier werden Sie, auch wenn das eine Rüge der Duden-Redaktion nach sich ziehen mag, für immer und alle Zeiten lesen: Ich beherrsche weder die boolesche Algebra, noch die lateinischen Stammformen, noch den Bassnotenschlüssel, noch die Abseitsregel. (Weder Abseitsregel, noch Bassnotenschlüssel sind übrigens wirklich schwer; anders ist es mit der booleschen Algebra. Lateinische Stammformen wiederum kann man lernen [und bald darauf leider wieder vergessen].)

¹ Auch wird es hier demnächst einen eigenen Artikel über das Semikolon geben; eines der unterschätzte­sten Satzzeichen nicht nur der deutschen Sprache, sondern auch international völlig zu unrecht geschmäht.

Kurz – und gut?

6 Minuten Lesedauer
Photo von schwarzen Shorts mit weißen Punkten, die an einer Wäscheleine hängen. Im Hintergrund grünes Laub, und im oberen Bereich ist durch ein Glasdach ein wenig Himmel zu sehen.
Bild: Niklas Hamann via Unsplash.

Ernst Piper, Professor für Neuere Geschichte, schrieb vor gut zwei Jahren für die Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) einen Artikel über die Weimarer Republik mit dem Titel »Gefährdete Stabilität 1924-1929«. (Leider wieder hochaktuell, Leseempfehlung!)

Wie mittlerweile üblich, steht am Anfang des Textes die geschätzte Lesedauer: 27 Minuten zu lesen.

Das ist vermutlich kein Rekord, aber zumindest am entgegengesetzten Ende von tl;dr.

Die Abkürzung ist im Internet weit verbreitet und bedeutet too long; didn’t read. Vermutlich zuerst 2002 verwendet, hat sie sich inzwischen für zwei Zwecke durchgesetzt: Einerseits, um zum Beispiel in einem Kommentar zu bemängeln oder zu spotten, ein Text sei zu lang, und andererseits, um einem langen Text eine Zusammenfassung voran- oder nachzustellen.

Aber was genau bedeutet dieses »zu lang«?

Und, im Sinne der Überschrift: Ist kurz wirklich immer gut? Oder gar besser?

Zum er­sten Punkt: Ob Leser*innen einen Text als zu lang empfinden, hängt zu einem guten Teil von ihren Lesegewohnheiten ab. Menschen, die sich hauptsächlich bei TikTok informieren (in Großbritannien sind das knapp 30 Prozent der Zwölf- bis 15-Jährigen […], [und] einer von zehn britischen Erwachsenen bezieht Nachrichten über die App), wird wahrscheinlich ein durchschnittlicher Blogbeitrag schon (zu) lang erscheinen, den Menschen, die regelmäßig sonntagvormittags die komplette ZEIT lesen, noch als kurz wahrnehmen.

Text-Seite einer Postkarte, eng beschrieben in alter deutscher Handschrift mit fast unleserlichem Text.
Bild: Private Postkarte von 1909 via Wikimedia Commons (gemeinfrei).

Gleichzeitig sind wir alle auch Spiegel der Gesellschaft, in der wir leben. Josephine Obert zum Beispiel ist Postkartenforscherin und sagte 2018 in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung: Die Texte werden immer kürzer.

Naja okay, mögen Sie sagen, auf Postkarten … Aber auch, beispielsweise, in Schulbüchern: Das österreichische Bundesmini­sterium für Unterricht, Kunst und Kultur schrieb schon 2002: Mit dem gesellschaftlichen und vor allem dem kom­mu­ni­ka­tions- und medientechnologischen Wandel der letzten Jahrzehnte haben sich viele Lesestoffe und hat sich auch das Lesen selbst verändert: Visuelle Darstellungsformen ergänzen immer häufiger und in immer mehr Bereichen unseres täglichen Lebens die Schriftlichkeit. (…) Lesen wandert zunehmend auf den Bildschirm, Texte werden kürzer und stärker gegliedert, auch in Schulbüchern werden zentrale Inhalte zunehmend visualisiert vermittelt.

Knappe Texte, viele hübsche, bunte Bilder: So verlieren Menschen schon früh ihre Konzentrationsfähigkeit, ihre Aufmerksamkeitsspanne wird immer geringer (angeblich sind es nur noch acht Sekunden, bis sie von etwas anderem abgelenkt werden), ihnen wird der »Fokus gestohlen«, wie eine These und ein Buchtitel des (nicht unumstrittenen, aber lesenswerten) Autors Johann Hari lauten.

Nur noch ein weiterer Vergleich: Auf der Titelseite der hannoverschen Tageszeitung »Norddeutscher Kurier« vom 26. November 1923 steht ein Text von rund 2 500 Wörtern Länge; eine durchschnittliche Lesegeschwindigkeit von 200 Wörtern pro Minute vorausgesetzt, stünde heute darüber: »Lesedauer 13 Minuten«. Und dieser Text macht nur etwa die Hälfte der Seite aus.

Tageszeitung. Titelseite.

Heute, 100 Jahre später: absolut unvorstellbar.

Kinder-Kreidezeichnung eines Hauses mit einem Apfelbaum und der Sonne, ungelenk mit weißer Kreide auf eine schwarze Tafel gezeichnet.
Bild: Mick Haupt via Unsplash.

Manche Zyniker (und auch nüchterne Forscher) sprechen schon seit einiger Zeit von einer zunehmenden Infantilisierung der Gesellschaft; die englische Originalausgabe des Buches »Wir amüsieren uns zu Tode« von Neil Postman erschien 1985. Darin wird die Grundidee von Aldous Huxleys »Brave New World« (»Schöne neue Welt«) weitergeführt, dass die Menschen sich freiwillig in Unfreiheit begeben, weil sie Lustbefriedigung und kurzweilige Unterhaltung ihrer eigenen Autonomie vorziehen.

Auch die Massenmedien (Print, Radio, TV und ihre jeweiligen Online-Ableger) reagieren auf wachsenden wirtschaftlichen Druck mit einer Anpassung ihres Journalismus an Publikumswünsche, indem sie immer häufiger Information und Unterhaltung, Öffentliches und Privates vermischen, wie eine hochinteressante Analyse der oben schon erwähnten bpb kon­statiert.

Und ein (englischsprachiger) Artikel aus diesem Jahr in The Guardian erwähnt viele weitere Faktoren, die Konzentration beeinflussen können, wie zum Beispiel die immer kürzer werdenden Schnittfolgen in Filmen und Serien – eine subtile, ganz und gar unbemerkte Manipulation menschlicher Wahrnehmung.

Nicht nur wird die individuelle Konzentrationsfähigkeit immer geringer, auch gesellschaftlich zeigt sich: Die kollektive Aufmerksamkeit nimmt ab, wie das Magazin Forschung & Lehre schon 2019 schrieb. Während 2013 ein Hashtag durchschnittlich 17,5 Stunden in der Top-50-Li­ste war, blieb er dort 2016 nur noch durchschnittlich 11,9 Stunden, heißt es da. Und in diesem Jahr beträgt die durchschnittliche Lebensdauer eines trending hashtags elf Minuten.

Auch das Max-Planck-In­stitut kam 2019 zu dem Schluss: Mit der Informationsflut sinkt die Aufmerksamkeitsspanne der Gesellschaft.

So, das war jetzt in gewisser Weise auch eine Informationsflut – wer’s bis hierher geschafft hat: Hut ab! 😎

Kehren wir zurück zur Überschrift und der zweiten sich stellenden Frage: Ist kurz gut?

Es wäre schön, könnte man diese Frage mit einem einfachen »Nein!« beantworten. Aber alle, die sich öffentlich äußern, sei es in Video- und Audiobeiträgen oder mit dem geschriebenen Wort, müssen sich zwangsläufig auch Gedanken machen darüber, wen sie wie erreichen wollen. Wem nützt es, einen ewig langen Artikel über ein Herzensthema zu schreiben, den niemand liest, weil: tl;dr?

Andererseits: Wem nützt es, wenn sich alle Schreibenden, alle Medien- und Journalismusschaffenden dem »neuen Normal« von maximal zwei Minuten Lesedauer unterordnen? Damit befördern sie schließlich einen Prozess, der schleichend, aber nachhaltig zu einer Entmündigung der Menschen führt. Denn eines ist sicher:

Nur wer imstande ist, komplexe Sachverhalte zu verstehen, ist auch imstande, komplexe Probleme zu lösen.¹

Wer sich nicht konzentrieren kann, wird zum Spielball fremder Interessen.

Wirtschaftlicher und politischer.

Anders ausgedrückt: Wer nicht gründlich, nüchtern und differenziert Für und Wider abwägen kann, kann auch nicht Demokratie.

Aber ohne Demokratie – das lässt sich schon seit einer Weile beobachten – fällt die Menschheit zurück in mittelalterliche Feudalstrukturen. In denen nur die Für­sten² Rechte haben, alle anderen aber entrechtetes Fußvolk sind.

Wollen wir Menschen das?

¹ Deswegen fällt es zum Beispiel vielen immer noch so schwer, die Tragweite der Klimakata­strophe anzuerkennen.

² Milliardäre, Millionäre, Konzernlenker, Venture Capitalists, Shareholder … Sie wissen schon.

Der, die, das.

2 Minuten Lesedauer

Kürzlich fragte jemand, wieso hier eigentlich in der Überschrift stehe: Das Blog. Es heiße doch der Blog.

Diese Diskussion ist fast so alt wie das Bloggen selbst: Am 13. November 1990 ging die Website von Softwareentwickler Tim Berners-Lee online, die heute als er­ster Blog gilt, auch wenn die Wörter weblog und blog damals noch nicht exi­stierten, erinnert sich die Wikipedia.

Und auch da steht das Wort im Maskulinum.

Aber: Die Etymologie, also die Entstehungsgeschichte des Begriffs geht zurück auf die englische Wortkreation weblog, die ins Jahr 1997 zurückreicht und durch die Zusammenziehung von »Web« und »Log« entstand. »Log« wiederum ist die Kurzform von »logbook« und bedeutet tatsächlich dasselbe wie das deutsche »Logbuch«, nämlich die Aufzeichnungen einer Schiffspassage oder eines Fluges – und auch »Tagebuch« (zum Nachlesen: »log« im Merriam-Webster-Dictionary, die Ziffern 3 a, 3 b und 4).

Puri­sten (gelegentlich auch »Sprachpolizei« genannt) haben über das seit Erfindung des Wortes vergangene Vierteljahrhundert hinweg immer wieder streng­stens darauf beharrt, es müsse unbedingt »das Blog« heißen, alle anderen folgen vielleicht dem Gedanken, den das Online-Deutsch­könner-Portal korrekturen.de dazu hat: Als Verkürzung aus das Weblog folgt das Blog dessen Genusform. Aufgrund des Gleichklangs und der semantischen Ähnlichkeiten zu der Block setzt sich jedoch mehr und mehr die maskuline Form durch.

Im WERNERPRISE°-Blog wird es beim Neutrum bleiben, aber Starrsinn ist keine gute Eigenschaft; also ist der maskuline Blog schon auch irgendwie okay … (-ish …)

Sinn machen.

1 Minute Lesedauer
An den Wortpranger werden in diesem Blog Wörter gestellt, die – aus verschiedensten Gründen – nicht existieren sollten. Und ja, die Auswahl ist zu einhundert Prozent subjektiv. Allerdings auch immer begründet.

Wer den wunderbaren, um nicht zu sagen: hervorragenden, Film »Eins, zwei, drei« (im Original »One, Two, Three«) von Billy Wilder gesehen hat, wird sich an den Ausruf des Coca-Cola-Chefs C. R. MacNamara (unglaublich gut: James Cagney) erinnern:

Sitzen machen! schnauzte der gerne seine Untergebenen an. Auch im amerikanischen Original.

Ungefähr so klingt auch Sinn machen, einer jener Anglizismen, die nicht wirklich bereichernd sind.

Es stimmt schon, die englische Sprache verwendet das Wort »make« für alles mögliche.

Soll sie doch! Bitte gern!

Sollen englisch sprechende Menschen doch Freunde machen, es auf dem Rückweg nach New York machen, es noch ganz knapp auf die Party machen, einen Lebensunterhalt machen, eine Rede machen, jemanden etwas tun machen; immerhin, auch im Deutschen machen Kleider Leute.

Aber hierzulande kann etwas nicht einfach aus dem Nichts »Sinn machen«, also erschaffen. Es muss sich schon etwas mehr anstrengen, in Demut üben und »Sinn ergeben«.

Aber nein, lieber ergeben sich die meisten deutschsprachigen Menschen dem Englischen. Das sprechen ja auch viel mehr Leute, also, logisch: Macht Sinn.

Lass das doch die KI machen.

7 Minuten Lesedauer
Alte Abbildungen der Webmaschine Power Loom in Meyers Konversationslexikon.
Abbildung: Webautomat »Power Loom«, Wikipedia (gemeinfrei).

Während der vergangenen anderthalb bis zwei Jahrhunderte der Industriellen Revolution – einer der größten Umwälzungen in der Menschheitsgeschichte – mussten immer wieder ganze Berufsstände um ihre Existenz bangen.

Als die Webmaschinen eingeführt wurden, waren die Handweber*innen betroffen, die Spinnmaschinen machten die Spinner*innen überflüssig.

Am wenigsten beschwert haben werden sich die Pferde über die Einführung des Automobils, aber mit der Entwicklung von Robotern ging es auch Fabrikarbeitern an den Kragen.

»White-Collar-Jobs« allerdings, intellektuelle und kreative Tätigkeiten, schienen sicher vor dem Siegeszug der Technik.

Bis dann vor einer Weile »Künstliche Intelligenz«, »Maschinenlernen«, »Generative KI« und verwandte Begriffe auf der Bildfläche erschienen. Längst nicht so plötzlich, wie es vielen erscheinen mochte – die Entwicklung Künstlicher Intelligenz reicht weit ins vergangene Jahrhundert zurück –, aber trotzdem mit einem gewaltigen Momentum und dem Gefühl, ein Sturm komme auf.

Auf den ersten Blick mag es nur »gerecht« erscheinen, dass endlich mal auch die Snobs aus Gymnasium und Uni vom Fortschritt eingeholt werden und um ihre Jobsicherheit bangen müssen. Wie immer im Leben, so lohnt allerdings auch hier genaueres Hinsehen.

Bild einer vollautomatischen Autoproduktion; ein silbergraues, halbfertiges Autochassis hängt zwischen orangen Roboterarmen.
Bild: Lenny Kuhne via Unsplash.

Ohne chauvinistisch erscheinen zu wollen oder »von oben herab«: Es gibt Unterschiede zwischen den Tätigkeitsfeldern. Wenn ein Roboterpark das Zusammensetzen von Autos von den Arbeitern übernimmt, dann ist das unter Umständen sogar eine ganz gute Idee, weil die Maschinen ermüdungsfrei und präzise arbeiten, aber vor allem, weil die immer gleiche, »stumpfe« Tätigkeit den Menschen gar nicht mal besonders gut tut. Mental wie auch physisch.

Randbemerkung: Das war ja auch mal mit einem Versprechen verbunden: Wenn Maschinen die lästigen Arbeiten verrichten, dann haben die Menschen mehr Zeit für die schönen Dinge des Lebens, hieß es einst.

Daraus ist allerdings nichts geworden; mag sein, dass der Kapitalismus und vor allem seine Protagonisten (Sie wissen schon: Fabrikbesitzer, Shareholder, Millionäre, Milliardäre) daran einen nicht geringen Anteil haben.

Close-up of a laser beam on a human eye.
Bild: Brands&People via Unsplash.

Aber zurück zum Thema: Auch in manch anderen Bereichen mag der Einsatz von Robotern und Maschinen sinnvoll sein. Kritische Operationen zum Beispiel, die hohe Präzision erfordern, sind möglicherweise bei computergestützten Lasern in besseren … nun ja – Händen. (Allerdings braucht es im medizinischen Bereich unbedingt und in noch viel größerem Maß als in Deutschland heute üblich persönliche Ansprache und menschliche Nähe; hier darf die Maschine nur ergänzend und von nötigenfalls händchenhaltenden Menschen begleitet tätig sein.)

Auch die Auswertung riesiger Datenmengen (Big Data) für beispielsweise wissenschaftliche Zwecke zur Erforschung von Klimakatastrophe, Pandemieentwicklungen oder genetischen Strukturen ist sicher häufig eine unschätzbare Hilfe.

Wenn es aber um das Schaffen neuer Inhalte geht, also den schöpferischen Prozess, dann ist der Einsatz von Maschinenhirnen vollkommen unangebracht. (Und ja, auch eine Bewerbung zu schreiben, ist ein schöpferischer Prozess, dessen Ergebnis viel über die Person hinter den Worten verrät.)

Der Grund ist simpel: Maschinen sind nicht schöpferisch.

Sie (re-)kombinieren nur, was sie aufgeschnappt haben, während sie im unendlichen Internet unterwegs waren auf der Suche nach Beute. Dass sie dabei auf das Urheberrecht scheißen – drauf g’schissen!

Wenn sie denn wenigstens etwas wirklich Neues hervorbrächten.

Aber nein, Large Language Models (LLM) wie der phänomenal hochsterilisierte Automat ChatGPT, Googles Lamda, Metas Llama, der chinesische Ernie von Baidu und das Laptop-taugliche Orca von Microsoft, oder die Text-to-image-Graphikprogramme (DALL-E, Imagen, Stable Diffusion, Midjourney) plappern beziehungsweise pinseln nur nach, was ihnen vorgegeben wurde.

Unterstützt von – zugegebenermaßen beeindruckenden – riesigen künstlichen neuronalen Netzen (KNN) und Deep-Learning-Techniken, ziehen die Algorithmen durch die pflückreifen Felder des WWW und nehmen einfach alles mit, was nicht bei drei auf den Bäumen ist.

Aus den bei ihren Streifzügen erbeuteten Daten lesen sie dann Regelmäßigkeiten heraus. Je öfter B auf A folgt, desto sicherer werden die Bit-Gehirne, dass B hinter A gehört. Oder, wie es die englischsprachige Wikipedia ausdrückt: Generative AI models learn the patterns and structure of their input training data and then generate new data that has similar characteristics.

Frei übersetzt bedeutet das also, dass ChatGPT, Midjourney und all die anderen Anwendungen aus dem Bereich der generativen KI Muster und Strukturen ihrer Trainingsdaten lernen und neue Datensätze mit ähnlichen Eigenschaften erzeugen.

Man könnte das wohl »Nachäffen« nennen.

Auch das Online-Wörterbuch Linguee hat 2009 einfach erstmal angefangen, Texte im Netz zu analysieren. Mittlerweile zum Volltext-Übersetzungstool DeepL herangewachsen, ist es ein Beispiel dafür, was KI wirklich prima kann: das, was ist, auswerten.

Was sie nicht kann, ist, grundsätzlich Neues zu schaffen.

Und aus den oben beschriebenen Prinzipien der Datengewinnung und -analyse erwachsen eine Reihe weiterer Probleme:

  1. Die Algorithmen sind ignorant. Sie nehmen alles für bare Münze. Ohne Unterschied. Alles. Alle Fake-News, alle unabsichtlichen Irrtümer, alle absichtlich gestreuten Verwirrungen. Alle nationalistischen, rassistischen, sexistischen, misogynen, ableistischen Vorurteile. Sie diskriminieren, weil das Netz es tut. Hier ein, nein zwei, nein drei Links zu dem Thema (es hätten auch dreißig werden können).
  2. Die LLMs sind »Black Boxes«. Ab einem bestimmten Punkt, ab der n-ten Schicht der übereinandergestapelten Analyse-Ebenen wissen nicht mal ihre Programmierer mehr, was die Software tut.
  3. Die Ergebnisse wirken, zumindest auf den ersten Blick, überzeugend. Und bekanntlich ist es ja der erste Eindruck, der zählt; kaum jemand scheint noch gewillt oder gar imstande, tiefer zu schauen, sich Zeit zu nehmen, kritisch zu hinterfragen und selbst zu recherchieren. Sei es aus Bequemlichkeit oder auch Unvermögen: Viele Menschen verlassen sich auf das, was ihnen die KI vorsetzt. Und das kann der allergrößte Unfug sein, wie sich hier oder hier oder auch hier nachlesen lässt. Manchmal kann es sogar gefährlich werden. (Auch hier könnten wieder viele weitere Links stehen.)

Es gibt noch ein weiteres Argument, das hier zu entkräften versucht werden soll: Aber Nachahmung und Imitation sind doch immer die Grundlage des Lernens, und auch die Grundlage kreativer Schöpfung.

Kinderhände in Nahaufnahme beim Klavierspielen.
Bild: Clark Young via Unsplash.

Es stimmt, Menschen zwischen sechs Monaten und sechs Jahren verfahren ganz ähnlich wie die künstlichen neuronalen Netze, wenn sie Sprachen lernen, später dann ein Musikinstrument und Mathematik. Aber im Vergleich zu ihnen, die mit jedem neuen »Trainingssatz« auch ihr Verständnis erweitern, und deren Gehirne mit ihren Synapsen Verbindungen schaffen, die zu genuiner Neuschöpfung imstande sind, haben KI-Systeme gerade mal das Verständnis von Papageien.

Und auch Künstler*innen, Schreibende, alle Menschen, die etwas schaffen (und sei es ein Bewerbungsschreiben) greifen natürlich auf einen riesigen Datensatz aus Abgespeichertem und Wissen zurück – Grammatikregeln, Harmonie- und Farbenlehre, die Chorsätze der Beatles, die knappe, zurückgenommene Sprache Ernest Hemingways –, aber im Unterschied selbst zum »deepsten« Learning verstehen sie, was sie tun.

Wer will, mag auch gern sagen: Ihr Schaffen hat Seele. Oder, etwas weniger »eso«: Originalität.

Bis ein von einem LLM erzeugter Text es schaffen wird zu strahlen und zu funkeln, Menschen tief ins Herz zu treffen, sie dazu anzuregen, über die großen Fragen des Lebens zu reflektieren – kurz, Menschen zu bewegen, bis dahin wird wohl noch eine Ewigkeit vergehen. Buchstäblich.

Lohnenswert.

2 Minuten Lesedauer
An den Wortpranger werden in diesem Blog Wörter gestellt, die – aus verschiedensten Gründen – nicht existieren sollten. Und ja, die Auswahl ist zu einhundert Prozent subjektiv. Allerdings auch immer begründet.

Es hat sich durchgesetzt, also muss es wohl vielen Menschen einleuchtend erscheinen – was aber vermutlich auf ein Beinahe-Homophon zurückzuführen ist:

Lobenswert ist nämlich ein völlig zu recht existierendes Wort, mit dem sich zugleich auch der Unsinn von lohnenswert prima erläutern lässt.

Wenn etwas lobenswert ist, dann ist es wert, gelobt zu werden. Ganz so, wie auch gilt:
hörenswert = wert, gehört zu werden,
sehenswert = wert, gesehen zu werden,
empfehlenswert = wert, empfohlen zu werden.

Okay, mit dieser Logik nun zurück zum Ausgangspunkt:
Lohnenswertwert, gelohnt zu werden. Denn gelohnt zu werden ergibt einfach überhaupt keinen Sinn.

Kurzer Einschub: Wer jetzt sagt: Aber was ist mit belohnt zu werden, der*m sei gesagt: Das ist etwas völlig anderes; das ist auch nicht, was das Wort in seiner alltäglichen Verwendung ausdrücken soll; und schließlich: Dann müsste es belohnenswert heißen.

Und auch die eventuell ins Feld geführte Option, wert, sich zu lohnen ist offensichtlicher Unfug.

Aber schlimmer noch ist fast: Es gibt doch längst ein Wort, das genau das ausdrückt, was lohnenswert gern ausdrücken würde:

Ladies and Gentlemen, Mesdames et Messieurs, et voilà:

Lohnend.

Ist obendrein sogar noch kürzer. Und eigentlich setzen sich doch die kürzeren meistens durch.

Diesmal leider nicht.

Das kürzere lohnend hat den Kürzeren gezogen zugunsten des fürchterlichen lohnenswert.

Es geht eben oft nicht gerecht zu in der Welt. Auch nicht in der Welt der Sprache.

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