Pro-pan-ganda.

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Die Afro-Amerikanerin Erykah Badu trägt ein buntes, indigen anmutendes Stirnband, um ihre vielen Haare zu bändigen, außerdem auffällige, aus größer werdenden Kreisen bestehende Ohrringe und einen Nasenring. Der Bildhintergrund ist orange-braun und mutet ebenfalls indigen an.
Erykah Badu in dem Interview.
Copyright: Fair use.

Erykah Badu zitiert in diesem kurzen Interview-Ausschnitt eine Philosophie, die besagt, dass 85 Prozent der Menschen auf dem Planeten Mitläufer [followers] sind. 10 Prozent der Menschen auf dem Planeten sind Kreative [creatives] oder Anführer [leaders]. Und 5 Prozent der Menschen sind Beobachter [observers]. Letztere werden oft entweder gleich ermordet oder anderweitig zum Schweigen gebracht, weil sie den 10 Prozent ihr Geschäftsmodell verhageln. Und das geht deswegen so einfach, weil die Leute geführt werden wollen.

Woher auch immer diese Philosophie stammt, wie zuverlässig auch immer die Informationen der Sängerin und Musikerin sind, intuitiv zumindest scheint diese Einschätzung leider sehr richtig.

Wer gelenkt wird, muss dieser Lenkung erstmal zustimmen — zumindest unbewusst, ja. Und laut Erykahs Zitat wollen die allermei­sten das auch. Allerdings sind die Lenkungsmethoden schon auch sehr perfide, siehe – als ein sehr deutliches Beispiel – Cambridge Analytica.

Wer die Wirkmacht von Propaganda in Bezug zur Formbarkeit von Menschen setzt, schiebt damit nicht die Verantwortung auf andere ab, sondern benennt die Komplexität zutreffender.

Die AfD ist nicht zuletzt so stark geworden, weil in Deutschland immer noch viele Menschen im Herzen Nazis sind. Trotzdem »hilft« es, dass externe Kräfte Zweifel säen mit Desinformation und Lügen.

Die riesige Ölplattform mit unzähligen stählernen Aufbauten auf vier gewaltigen, orangefarbenen Säulen liegt schräg im Meer.
Die sinkende Ölplattform Thunder Horse, 2005. Quelle: Wikimedia.

Und »externe Kräfte« kann zum Beispiel auch bedeuten: BP/Exxon/Shell, die seit den Siebzigern des vergangenen Jahrhunderts gezielt Fehlinformationen zum Einfluss von CO₂ auf das Klima verbreitet haben. Da gab es schon den Bericht an den Club of Rome, »Die Grenzen des Wachstums«, aber das war halt ein dickes Buch, anstrengend zu lesen. Da hat man lieber der Fossil-Propaganda geglaubt. Und bis heute hält diese Verbreitung von Falschinformationen an, wie dieser (englischsprachige) Kommentar im Magazin Salon belegt.

Ein Fazit könnte sein: Es braucht immer zwei – nämlich Akteure, die lenken, und Menschen, die sich lenken lassen. Er­stere sind aber allermei­stens in einer Machtposition, die sie für ihre Propaganda schamlos ausnutzen. Sie haben, ganz einfach gesagt, das Geld, »alternative Fakten« zu kaufen und zu verbreiten.

Für einen etwas positiveren Ausklang und als P.S.: Erykah hat im August 2018 einen der legendären npr-Tiny-Desk-Gigs performt. Sehr sehens- und hörenswert!

Sich. Und andere?

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Stilisierte Symbolbilder im Emoji-Stil mit vier verschiedenen Gesichtern in unterschiedlichen Hautfarben, die alle eine Atemschutzmaske tragen.
Graphik: visuals via Unsplash.

Na, wer erinnert sich noch an damals, als die Seuche kam? Über vier Jahre ist das her — Kinder, wie die Zeit vergeht! — und ein sehr gutes Beispiel dafür, wie Menschen kurzfri­stig aus Angst und anderen egoi­stischen Motiven imstande sind, sich vernünftig zu verhalten. Langfri­stig aber, und aus Altruismus? Fehlanzeige.

So bald sie durften, rissen sich die mei­sten die ach, so lä­stigen Masken vom Gesicht, aßen endlich wieder auswärts, gingen wieder, natürlich maskenlos, ins Kino, in Konzerte, in Vorträge, in Versammlungen, schließlich dann sogar in Arztpraxen und Krankenhäuser.

Jenen Teil der Botschaft, in dem es hieß, dass man sich und andere mit der Maske schütze, den haben sie überlesen, überhört, übersehen, ignoriert.

Person mit einer Ela­stomer-Atemschutzmaske, die fast das gesamte Gesicht bedeckt. Darüber trägt die Person zusätzlich eine Brille.
Photo: Matt Koffel via Unsplash.

Risikopersonen, die eine Infektion unbedingt vermeiden müssen, sind seitdem noch einsamer, als sie vielleicht vorher schon waren. Sie können nicht mehr einkaufen, zur Ärzt*in, ins Krankenhaus gehen, ohne sich mit Masken zu schützen, die an apokalyptische Filme erinnern. (Auch wenn manche viel Kreativität und Geduld aufwenden, solche Masken außerordentlich originell und schön zu verzieren.)

Trügen einfach alle weiterhin reguläre FFP-2-Masken, wenn sie in geschlossene Räume mit anderen Menschen gehen (medizinische und therapeutische Praxen und Hospitäler, Einkaufszentren und Supermärkte …), dann wäre es jenen Menschen, die ein erhöhtes Risiko haben – und das sind nicht wenige, dazu gleich mehr – auch weiterhin möglich, ein relativ normales Leben zu leben.

So wie sich die Lage momentan darstellt, hindert sie der Rest der Menschheit daran.

Das ist aus minde­stens zwei Gründen falsch.

1. Ebenso wie Rassismus, Klassismus und Sexismus gehört auch Ableismus zu den -ismen, die in einer modernen Gesellschaft nichts zu suchen haben. Leute, denen es gut geht, mental und physisch, neigen leider sehr dazu, jene vielen anderen zu vergessen, deren Leib oder Seele (oder beide) unter Einschränkungen leiden.

Aber ebenso, wie es mittlerweile an (immer noch nicht allen, aber immerhin) vielen Orten Zugangsmöglichkeiten für Rollstuhlfahrer*innen gibt, Gebärdensprache für im Hören Eingeschränkte, oder auch beschreibenden ALT-Text zu Internet-Bildern, der Menschen mit eingeschränktem Gesichtssinn von Screenreadern vorgelesen wird (um nur einige Beispiele zu nennen) – ganz genau so muss auch Immungeschwächten, an Herzschwäche Leidenden, Menschen mit einer neurologischen Erkrankung, Diabetes, anderen chronischen Erkrankungen die »Teilhabe«, wie es immer so schön heißt, »ermöglicht werden«.

Es gibt keinen einzigen vernünftigen Grund dagegen, in geschlossenen Räumen eine Maske zu tragen. Aber viele Gründe dafür.

Mehrere Personen mit Schutzmasken, die in einem Tischkreis zusammen in einem Raum sitzen.
Photo: Joel Danielson via Unsplash.

2. »Risikopersonen« ist ein irreführender Begriff. Die allermei­sten werden dabei sehr wahrscheinlich an Menschen denken, denen wegen einer Vorerkrankung ein schwerer COVID-Verlauf droht. Die schweren Verläufe sind aber, den in beeindruckender Geschwindkeit (auf der Basis jahrzehntelanger Forschung übrigens) entwickelten Impfstoffen sei Dank, für einen Großteil der Menschen kein Problem mehr.

Nach wie vor sehr problematisch allerdings sind langwierige Folgeerkrankungen wie zum Beispiel Long COVID. Dazu zählen auch all jene gehäuft auftretenden Erscheinungen wie Herz-Kreislauf­pro­bleme bis hin zu Infarkt und Schlaganfall, ein langfri­stig geschwächtes Immunsy­stem, Beeinträchtigungen der Hirnfunktion und zahlreiche andere, alle Organe betreffende COVID-Folgen. Die gemeinerweise sogar nach »leichten Verläufen« oder sogar symptomfreien Infektionen auftreten. Und bei jungen Leuten.

Die Autorin, Ex-taz- und SPIEGEL-Kolumni­stin Margarete Stokowski zum Beispiel ist schon weit über zwei Jahre Long-COVID-Patientin; Mitte März erinnerte sie sich anlässlich des »Long Covid Awareness Day« auf In­stagram an ihr Leben davor. Und in einem anderen Post vom 1. März schrieb sie: Manchmal fragen Leute, was ist, wenn ich trotz der Schwäche irgendwas mache? Kann sein dass es klappt, kann sein dass ich ohnmächtig werde. That’s Long COVID for you.

Und noch eines, was viele »Normalgesunde« nicht wissen: Jede Corona-Infektion addiert sich auf. Mit jedem SARS-CoV-2-Kontakt wird das Risiko größer, selbst als vorher vollkommen gesunde Person eine der vielen Folgeerkrankungen zu bekommen. Dazu gibt es reichlich Studien, die hier nicht alle verlinkt werden können; stellvertretend sei diese in nature veröffentlichte Untersuchung erwähnt. Auf der Seite LINKS dieses Blogs gibt es außerdem reichlich Recherchefutter.

Aber es scheint, als sei das Problem nicht auf COVID-19, ja, nicht einmal auf Gesundheit im allgemeinen beschränkt.

Egoismus ist offenbar hoffähig geworden. Hauptsache, mir und meiner Bubble geht es gut. Die anderen können sehen, wo sie bleiben.

In einem Flüchtlingslager. Auf den Wegen hängt Wäsche zum Trocknen, ein paar Menschen sind unterwegs. Alles wirkt provisorisch, aber trotzdem, als wären die Bewohner schon lange hier.
Photo: Julie Ricard via Unsplash.

Ein Beispiel dafür ist die sogenannte »Flüchtlingsdebatte«. Die genau genommen gar keine Debatte ist, denn allen momentan amtierenden Politikern ist gemeinsam, dass sie die Grenzen nur sehr, sehr bedingt öffnen möchten. Trotz »Fachkräftemangels«, trotz koninuierlichen Rückgangs der Geburtenrate (Deutschlands Bevölkerung hat zwar 2023 deutlich zugelegt, was aber hauptsächlich auf den Zuzug ukrainischer Menschen, die vor dem Angriffskrieg eines Imperiali­sten fliehen mussten, zurückzuführen ist).

Der Kapitalismus mit seiner massiven Propaganda für Konkurrenzdenken hat die den Menschen eigentlich eigene Fähigkeit zur Empathie und Solidarität gründlich ausgemerzt, zumindest in einem Großteil der Bevölkerung. Mit Zuckerbrot (Konsum) und Peitsche (Jobverlust).

Zum Abschluss noch mal kurz zurück zum Eingangsthema. Hier sind zwei dringende Linkempfehlungen zu Jessica Wildfires OK Doomer, englischsprachig: Mild at First: A Brief History of The 1918 Bird Flu Pandemic und We’re Cornered by Bird Flu.

Nach der Pandemie ist nämlich vor der Pandemie. (Und in Wirklichkeit auch gar nicht nach, siehe oben.)

Mehr ≠ weniger!

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Es scheint ein allgemeines Missverständnis vorzuliegen. Anders sind gegenwärtige Trends nicht erklärbar.

So wissen immer mehr Menschen, dass der Ausstoß von CO₂ die Erdatmosphäre aufheizt und den pH-Wert der Ozeane verändert – kurz, das Klima kollabieren lässt. Und trotzdem kaufen immer mehr Menschen gewaltige SUVs, deren Umweltbilanz katastrophal ist.

Immer mehr Menschen wissen auch, dass Avocados eine ähnlich unterirdische Umweltbilanz haben. Und doch kaufen immer mehr Menschen immer mehr Avocados; verfünffacht habe sich der Import nach Deutschland, berichtet DER SPIEGEL.

Und noch so ein 180°-Phänomen: Immer mehr Menschen wissen, dass Fast Fashion ruinös ist für Umwelt und in der Branche Arbeitende, für die psychologische Beschaffenheit von Teenagern, aber auch Erwachsenen. Und doch wächst die Branche nahezu unaufhaltsam. Gerade hat HBO eine Dokumentation über die beliebte Modemarke Brandy Melville herausgebracht: A very odd and ugly worldview titelt der Guardian-Artikel.

Also, zurück zur Überschrift: Nein, liebe Mitmenschen, mehr ist nicht weniger! Es ist genau umgekehrt: Weniger ist mehr!

Keine Zeit!

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Ein Salá, wie im Text beschrieben und umgeben von vielen sattgrünen Pflanzen.
Ein Salá, allerdings mit einer aufwendigeren Dachkon­struktion als sonst üblich.
Eigenes Bild. Lizenz: CC BY-SA   

(Dieser Text ist am 7. November 2012 entstanden, unter dem schattenspendenden Bananenblätterdach eines Salá – einer einfachen Hütte mit einem Tischbrett in der Mitte, davor und dahinter sechs [oder mehr, je nachdem, wie gut man sich kennt] Plätzen auf zwei Sitzplanken – in einem kleinen Ort direkt an der Südostkü­ste Thailands.

Anders als sonst in diesem Blog üblich, ist er in der Ich-Perspektive geschrieben. Er ist nicht weitergehend bearbeitet, deswegen sind bei Zeitangaben gut zehn Jahre dazuzurechnen.)


Stilisiertes Zifferblatt einer Uhr.
Eigenes Bild. Lizenz: CC BY-SA   

Mir scheint, dies ist das zentrale Problem unsere(s Teils de)r Welt: Niemand nimmt sich mehr Zeit. Ja, da steht nimmt sich, weil ich fest daran glaube, dass es zum großen (größten!) Teil an uns liegt, wie wir unsere Zeit »managen«.

Die mei­sten wird es vielleicht überraschen, dass unser Zeitverständnis noch gar nicht besonders alt ist; vor etwas mehr als zwei Jahrhunderten lebten die Menschen in Europa noch ohne den ständigen Einfluss der von der Uhr gemessenen Zeit. Sehr interessant dazu ist ein Buch, das ich vor einer Weile gelesen habe: Edward P. Thompson, »Blauer Montag. Über Zeit und Arbeitsdisziplin«, mit einer Einführung von John Holloway; hier ein Ausschnitt aus der Verlagswerbung: Vor gut 200 Jahren wurde im Zuge der Indu­striellen Revolution in England die Zeit zur Uhr-Zeit. Gelebte, an der Natur gemessene Zeit wird zu mit Arbeit oder in Freizeit verbrachter Zeit, zu genutzter oder verschwendeter Zeit. Klingt vertraut, oder?

Ich schreibe dies aus einem Land, in dem die Uhr (immer noch) längst nicht den Einfluss hat, den sie bei uns beansprucht. Okay, das ist Asien, das ist weit weg, hier gehen die Uhren anders. Aber schon in Griechenland, gerade mal zweitausend Kilometer von Deutschland entfernt, halten die Menschen mitten auf der Straße ihre Autos an und beginnen eine Plauderei von Steuer zu Steuer, und bis hinter ihnen mal jemand zu hupen beginnt, vergeht eine ganze Weile. Warum auch? Selbst Deutschland verfügt eigentlich schon über das Handwerkszeug, zum Beispiel gibt es das Sprichwort nichts wird so heiß gegessen, wie es gekocht wird. Allein daran immer mal wieder zu denken, ist schon eine große Hilfe.

Denn neben Gesundheit ist Zeit das wichtig­ste, das wir besitzen. Kein iPad oder »Smart«phone, kein Fernseher, keine schicken Klamotten, kein Auto und keine schöne Wohnung können uns vor dem Vergehen der Zeit schützen, und in Wirklichkeit brauchen wir all das nicht. In Wirklichkeit werden wir, von Werbung, Sozialneid und Gier, dazu getrieben, unsere Zeit einzutauschen gegen Geld, und dieses Geld dann gegen Güter. Wer hat daran ein Interesse – außer denen, die diese Güter herstellen? In Wirklichkeit ist die Uhr das mächtig­ste Werkzeug der Kapitali­­st*innen, die sich immer ungehemmter, drei­ster und radikaler breitmachen in unserer Gesellschaft.

Thompson hat das schon vor 45 Jahren erkannt; hier noch ein Zitat dazu aus dem Klappentext: 1967 stellte E. P. Thompson in seinem Essay dar, dass die veränderte Auffassung der Zeit nicht nur ein Symptom des sich durchsetzenden Kapitalismus ist, sondern ein Schlüsselelement zum Verständnis der modernen Gesellschaft. Von der Organisation und Teilung der Arbeit bis zur durchgeplanten Freizeitgestaltung, alle Strukturen sind von Zeitmessern durchgetaktet. Mit dem Ziel, die Menschen zu unterwerfen, ihnen ihr einziges Gut zu nehmen, über das sie wirklich frei verfügen können, und dieses Gut zu ersetzen durch Tand, glitzernden Schrott, der nach zwei Jahren automatisch in sich zusammenfällt, damit neu gekauft werden muss.

Was können wir tun? Er­­stens vielleicht uns ein Beispiel nehmen an jener noch relativ jungen französischen Bewegung der Décroissance, die auch in der Schweiz immer mehr Anhänger findet und deren Motive simpel sind: Handy abschaffen, Fernseher abschaffen, Auto abschaffen, so wenig wie möglich Ressourcen verbrauchen, nur das Nötig­ste kaufen und so den Teufelskreis aus immer mehr Konsum → immer mehr Wirtschaftswachstum → immer mehr Umweltzerstörung → immer mehr psychologische Schäden → immer mehr Konsum … unterbrechen.

Zweitens können wir uns vielleicht verabschieden von der höchst albernen Vorstellung, eine Lohn-Anstellung könne Lebensinhalt sein oder Erfüllung bieten. Von der selbstzerstörerischen Illusion, wir würden »gebraucht« in »unserer« Firma. (Sobald deine Funktion überflüssig wird oder jemand jüngeres, frischeres, besser ausgebildetes kommt, wirst du entlassen werden.) Und von der Idee, Arbeit sei etwas ehrenvolles, bedeutendes, wichtiges. Lohnarbeit ist immer, ohne Ausnahme, das freiwillige Herausstrecken der Hände zum Anlegen der Handschellen, der freudige Verzicht auf Freiheit und die Überantwortung des Menschen in die Sklaverei. (Ich weiß, an dieser Stelle werden einige murren, aber ich meine es genau so. Jede heutige Firma, sei sie tausende von Mitarbeiter*innen stark oder ein Kleinstbetrieb mit drei Angestellten, muss sich dem kapitali­stischen Gedanken beugen, muss effizient und wachstumsorientiert agieren, muss also gegen grundsätzliche menschliche Interessen handeln. Mögen di*er Chef*in und die Kolleg*innen auch noch so nett sein.)

Die grüne Som-oh ist groß wie ein Kinderkopf und liegt auf einem grünen Sitzkissen mit geometrischem Muster, das wiederum auf einem dunkelbraunen Holzstuhl mit vielen Verzierungen liegt. Eine Brille ist ihr aufgesetzt, so dass sie fast wie ein Gesicht wirkt.
Eine brilletragende Som-oh, in westlichen Sprachen Pomelo.
Eigenes Bild. Lizenz: CC BY-SA   

Und drittens … drittens können wir vielleicht ab und zu einfach mal anhalten. Ein Detail am Straßenrand betrachten. Auf dem Weg von der Mittagspause in den Büchern eines Antiquariats blättern. Spontan einen Extra-Kaffee trinken. Überraschend jemanden besuchen. Heute mal früher Schluss machen (Kopfschmerzen vortäuschen) und ans Wasser fahren. Mit Bus und Bahn oder mit dem Fahrrad, versteht sich. Wasser, überhaupt: Am Wasser sitzen ist die be­ste Quelle für die Stärkung der Seele. Und faulenzen ist der be­ste Nutzen, den wir überhaupt ziehen können aus unserer Zeit.

Vielleicht darf ich noch eins hinzufügen: Ebenfalls eine Illusion ist der Gedanke, Wachstum sei unbegrenzt möglich. Dies ist nämlich der Kerngedanke des Kapitalismus, und wie schon sämtliche Naturwissenschaften erkannt haben (Energieerhaltungssatz), ist er schlicht falsch. Auch das ist aber längst bekannt: 1972, fünf Jahre nach der Erstausgabe von Thompsons Buch, erschien erstmals der Bericht an den Club of Rome mit dem Titel »Die Grenzen des Wachstums (The Limits to Growth)« – nur angesprochen fühlt sich bis heute kaum jemand. Dabei sind wir es alle. Jede*r einzelne in unserem Verhalten und Bewusstsein; dass uns die Politik mit augenwischerischen Maßnahmen wie Pfand, Recycling, Batterierückgabe, Wärmeschutzgesetzen und »Energiewende« (555¹) dabei nicht hilft, weil sie selbst komplett in die kapitali­stischen Strukturen verstrickt ist, sollte niemanden überraschen. Per Gesetz erzwungene Energiesparlampen mit umweltschädigendem Quecksilber oder E10, das wertvollen Boden für die Nahrungsgewinnung unnutzbar macht, sind nur zwei willkürlich ausgewählte aktuelle Beispiele.

¹ Im Thailändischen – das eine Tonsprache ist, in der also die Tonhöhe über die Bedeutung entscheidet – wird die Ziffer fünf wie ein stark betontes »Ha!« gesprochen. Deswegen wird in Thai-Chats oft mit drei Fünfen ein Lachen wiedergegeben.

Zahlen, bitte.

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Eine Person in Sandalen und knielanger weißer Hose, die nur bis zur Hüfte zu sehen ist, geht über eine Betonfläche, auf die mit weißer Farbe verschiedene Zahlen in Quadraten aufgemalt sind.
Bild: Markus Krisetya via Unsplash

In einem guten und lesenswerten aktuellen Interview in der ZEIT wird der Soziologe Linus Westheuser mit den Worten zitiert: Ein Bürgergeld, von dem man leben kann und das einen nicht zwingt, jeden Job annehmen zu müssen, verbessert die Verhandlungsposition der Arbeitenden, gerade in den unteren Einkommensgruppen. Es macht sie weniger erpressbar und zwingt die Arbeitgeber zu Kompromissen.

Wie wäre es denn statt »Bürgergeld« mit »Bedingungsloses Grundeinkommen« (BGE)?

Lässt sich nicht finanzieren?

Ha!

Wenn sämtliche rund rund 85 Millionen Einwohner*innen Deutschlands monatlich ein BGE von 1200 Euro bekämen, wären das im Jahr rund 1,2 Billionen.

Ähnlich viel, nämlich 1.161.499 Millionen Euro, zahlte der deutsche Staat im Jahr 2021 als Soziallei­stungen aus. Allerdings entfiel ein großer Teil davon auf den Bereich Krankheit, nämlich 395.290 Millionen. Diese rund 400 Milliarden fehlen also noch, um allen Einwohner*innen (einschließlich Babys, Kindern und Greis*innen, wohlgemerkt; jeder Person) ein Grundeinkommen bezahlen zu können.

Zusammen mit einer Reihe von Magazinen berichtete das ZDF im Dezember über eine Studie des Netzwerks Steuergerechtigkeit: »Deutschlands Milliardäre besitzen minde­stens 500 Milliarden Euro mehr als bisher angenommen.« Auch t-online war das eine Meldung wert: »Tatsächlich dürfte der Wert der deutschen Milliardenvermögen deshalb minde­stens etwa 1,4 Billionen Euro betragen – aber auch zwei Billionen erscheinen den Studienautoren nicht unplausibel.«

Eine Vermögen­steuer (die in Deutschland zuletzt 1997 eingenommen wurde) von 30 % auf die minde­stens 1,4 Billionen, über die schon allein die deutschen Milliardär*innen verfügen, könnte sich auf minde­stens 420 Milliarden summieren.

Et voilà.

Und da sind sämtliche Ideen anderer, viel klügerer Menschen noch gar nicht enthalten, wie die »negative Einkommen­steuer« oder Götz Werners Idee der Konsumbesteuerung.

tl;dr

Das Bedingungslose Grundeinkommen ist problemlos finanzierbar.


Abschließend sei hier zur besseren Veranschaulichung noch auf eine faszinierende Darstellung der Vermögensverhältnisse am Beispiel der USA hingewiesen, durchaus auf deutsche Verhältnisse übertragbar.

99 …

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Photo einer Ladenfassade im kalifornischen Jacksonville mit einem Schild, auf dem zu lesen ist: »Smithfield Fresh Pork Sausage, Pound 99 ¢«.
Bild: John Margolies via Library of Congress (gemeinfrei).

a)  
b)  
c)  

Auswertung

a) Stimmt schon, das ist einer der wenigen deutschen Popsongs, die wirklich international Wellen geschlagen haben.
War aber nicht gemeint.

b) Ist es nicht zu und zu seltsam, dass das menschliche Gehirn denkt, dass 0,99 signifikant weniger sei als 1,00 – ob Euro, Dollar oder Kilogramm?
Aber auch das war nicht gemeint.

Die richtige Antwort lautet:
c) — »Wir sind die 99 Prozent!«

Jede einzelne von uns hat es mit Entscheidungen, Äußerungen, Handlungen, Verweigerungen und vielem mehr in der Hand, die Geschicke der Welt – oder minde­stens des Landes, oder der Stadt, des Dorfes, der Nachbarschaft – zu beeinflussen und damit zu steuern.

Jede einzelne von uns gestaltet Politik bei den Wahlen, Wirtschaft mit Konsumverweigerung, Miteinander durch Kommunikation.

Jedes scheinbar noch so kleine Tun oder Lassen, Sagen oder Schweigen hat Auswirkungen.

Und zwar nicht im Sinne des »CO₂-Fußabdrucks«, dieses vom Öl-Multi BP massiv beworbenen und schon allein daher stark kritisierten, aber auch objektiv viel zu schwammigen Konzepts, mit dem Konzerne immer wieder versuchen, die Verantwortung für Umweltschäden von sich selbst auf die Verbraucher abzuwälzen.

Sondern im Sinne einer Wirkmächtigkeit, die jede einzelne von uns hat. Wer’s lieber neudeutsch hat: Es geht um Empowerment. Du kannst, ich kann, und zusammen können wir erst recht.

Und hier noch, nur am Rande zum Thema passend, eine umwerfende, zugleich faszinierende und erschreckende graphische Umsetzung der Wohlstandsverhältnisse auf der Welt, oder anders gesagt: dessen, was alles wir mit dem obszönen Reichtum des einen Prozents anstellen könnten (Spoiler: den größten Teil sämtlicher Probleme lösen): Wealth, shown to scale von Mark Korostoff. Viel Vergnügen beim Scrollen …

Verbunden ≠ verbindlich.

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Ein Spinnennetz im Wald. Durch Morgentau an den Fäden ist es besonders gut zu erkennen. Der Hintergrund ist unscharf, Grün- und Brauntöne überwiegen.
Bild: Robert Anasch via Unsplash.

Seit Mitte der Neunziger das Internet allmählich allen zugänglich wurde, und erst recht seit 2007, als mit der Einführung des iPhone das Internet in die Hosentasche passte und jetzt überall hin mitgenommen wird, sind wir Menschen immer mehr miteinander vernetzt.

Wir stehen also in engerem Kontakt und sind uns näher gekommen.

Oder?

Im Lauf der vergangenen zwanzig Jahre häufen sich Untersuchungen, Artikel, auch persönliche Berichte darüber, dass das Gefühl von Vereinzelung und Isolation, von »Ich und die anderen« zunehme. Ist das nicht ein Widerspruch?

Nicht unbedingt. Denn die Art, wie wir uns verbinden und vernetzen, hat sich in ihrer Qualität verändert. Dabei bedeutet »Qualität« erst einmal keine Wertung, sondern einfach »Summe von Eigenschaften«.

Die allermeisten Menschen kommunizieren heute auf vielfältige Weise; Chats wie WhatsApp, Social Media und E-Mail sind vielen vertraut. Nicht mehr vertraut ist ihnen zum Beispiel das Telephon. Das live und direkt miteinander Sprechen hat mittlerweile einen schlechten Ruf. Anstrengend, unterbrechend, invasiv – und unnötig.

Dabei ist aber das Bedürfnis nach dem gesprochenen Wort natürlich nicht verloren gegangen. Es wird nur anders ausgelebt: mit manchmal viertelstundenlangen Sprachnachrichten zum Beispiel. Der große – scheinbare – Vorteil: Die sprechende Person kann ihre Gedanken loswerden, ohne von der zuhörenden Person unterbrochen zu werden und so den roten Faden zu verlieren. Alle anderen Vorteile, die zum Beispiel dieser (englischsprachige) Artikel nennt, gelten gleichermaßen für Telephongespräche.

Der – tatsächliche – Nachteil liegt eigentlich auf der Hand, wird aber offenbar von vielen ignoriert oder für unwichtig gehalten: So passiert kein Austausch. Das lebendige Gespräch zwischen Menschen lebt vom Geben und Nehmen, von Einwänden, Ergänzungen, von Zu- und auch Widerspruch.

Ähnlich ist es inzwischen mit Verabredungen: Ich weiß doch jetzt noch nicht, ob ich übermorgen Zeit und Lust habe! Lass uns noch mal texten. Ich häng gerade noch bei Ellen, wird wohl später. Klingt super, nach Freiheit und Flexibilität.

Oder doch nicht?

Natürlich kann es manchmal unbefriedigend sein, eine Verabredung im Nacken zu haben – zum Beispiel, wenn sich ein anderes Treffen als besonders und unerwartet inspirierend erweist, oder wenn es im Job mal wieder länger dauert.

Aber sich gleich gar nicht mehr zu verabreden und immer nur auf (digitalen) Zuruf zu treffen, führt zu einer Normalisierung der Unverbindlichkeit. Und die ist ungesund. Also, die Normalisierung.

Verbindlichkeit baut nämlich Vertrauen auf. Ähnlich wie die Zuverlässigkeit hat sie aber in jüngerer Zeit offenbar an Bedeutung verloren. Im Bereich von Dating, sexuellen und Liebesbeziehungen ist das Thema inzwischen präsent, zum Beispiel hat Deutschlandfunk Nova dazu im vergangenen Oktober einen Beitrag veröffentlicht.

Das kann dann in »Benching« münden – die andere Person mit einer Hinhaltetaktik »auf die lange Bank schieben«, was das Jugendmagazin ze.tt der ZEIT schon vor fast acht Jahren als Problem benannte und was mittlerweile offenbar auch als »Fizzling« bezeichnet wird, wie der stern es im vergangenen Sommer thematisierte – oder in »Ghosting«.

Und das wiederum gibt’s inzwischen durchaus auch mehr und mehr im Nicht-Dating-Bereich. Wer sich aktuell um neue Jobs bemüht, wird es kennen: Selbst die mit größter Sorgfalt und Kreativität gestaltete Bewerbung wird oft genug (oder nein: zu oft) einfach ignoriert. Und selbst auf Nachfrage kommt nichts.

Eine Collage, in der eine freie Fläche zwischen gelben Post-it-Zetteln eine Sprechblase darstellt, in deren Mitte drei zusammengeknüllte, ebenfalls gelbe Zettel drei Punkte ergeben. Der Hintergrund ist grün.
Bild: Volodymyr Hryshchenko via Unsplash.

Abgesehen davon, dass all diese Verhaltens- oder Nichtverhaltensweisen für die Empfänger*innen Stress, Unsicherheit, Selbstzweifel auslösen können, die schlimmstenfalls ähnliche Wirkung haben können wie »Gaslighting«, wird dadurch auch Kommunikation unterbunden oder verhindert, eine Kulturtechnik, deren Beherrschung nicht einfach ist und kontinuierlich geübt werden muss.

Und aus der nicht mehr im nötigen Maß stattfindenden Kommunikation erwächst noch ein weiteres, gefährliches Phänomen: Die (Selbst-)Wahrnehmung der Gesellschaft verschiebt sich. Auf ZEIT ONLINE erschien im vergangenen August ein wirklich lesenswerter Artikel, »Der Zerfall« betitelt. Darin wurde eine seinerzeit neue Studie vorgestellt, die zum Beispiel feststellte: Nur 30 Prozent glauben, dass auch andere sich regelmäßig Gedanken um den Zusammenhalt machen, während 62 Prozent sagen, dass sie selbst das sehr wohl tun.

Wenn Menschen nicht mehr miteinander sprechen, neigen sie offenbar dazu, andere in einem wesentlich negativeren Licht zu sehen als sich selbst. Und wenn »Othering« schon auf der Makro-Ebene schlimm ist (Rassismus, Sexismus, Ableismus und so weiter), hat es auf der Mikro-Ebene zerstörerische Wirkung auf die Demokratie.

Was der derzeitige Höhenflug der Rechtsextremisten nachdrücklich und besorgniserregend zeigt.


Hier noch ein paar Fundstücke, die während der Recherche auftauchten und durchaus lesenswert sind:

Du Arme*r?

4 Minuten Lesedauer
Ein Einzelbild aus einem Little-Nemo-Comic von Winsor McCay; der kleine Nemo ist offensichtlich gerade aus dem Bett gefallen. Er liegt auf seinen Schultern, seine Beine ragen nach oben, sein Gesichtsausdruck ist erschrocken. Die Zeichnung ist einfach, aber trotzdem sehr künstlerisch.
Bild: Winsor McCay via Wikipedia (gemeinfrei).

Alle Morgen wieder – aufwachen wie Winsor McCays Little Nemo; alle Morgen wieder – die Gedanken noch zerknautschter als das Kissen, noch zerzauselter als das Haupthaar; alle Morgen wieder – im Hinterkopf das nagende Halbbewusstsein: Das wird anstrengend heute, wie ge­stern auch schon, wie morgen auch wieder, wie immer.

Kein guter Tagesbeginn, stimmt’s?

Aber wenn auch vielleicht ein kleines bisschen übertrieben, ist es doch ungefähr das, was viele Menschen im wohlhabenden We­sten empfinden. Tag für Tag.

Nicht die tatsächlich Wohlhabenden natürlich, die es sich im mittleren und gehobenen Management, an der Firmenspitze oder gleich in der geerbten Villa gemütlich gemacht haben. Aber doch all die Millionen, die from paycheck to paycheck leben, wie es auf Englisch heißt, oder von der Hand in den Mund.

Eine Person ist von hinten zu sehen. Sie trägt einen Rucksack und Pla­stiktüten und geht allein durchs nächtliche Düsseldorf.
Bild: AR via Unsplash.

Jetzt schätzen Sie mal: Wie viele sind das wohl so, hier, im reichen Deutschland?

Na?

 
 
 

Im Jahr 2022 waren laut Erstergebnissen des Mikrozensus insgesamt 20,9 Prozent der Bevölkerung in Deutschland von Armut oder sozialer Ausgrenzung betroffen, heißt es auf der Website von Statista.

20,9 %.

Ein Fünftel aller Deutschen, jede fünfte Person.

Zählen Sie mal durch im Supermarkt. Eins, zwei, drei, vier – und stop, diese Person ist arm, armutsgefährdet oder sozial ausgegrenzt, muss sich also überlegen, ob sie sich tatsächlich heute frisches Gemüse lei­sten kann, oder ob nicht der Rest Toastbrot auch irgendwie reicht.

Und weiter; sechs, sieben, acht, neun – da ist wieder eine. Auch dieses menschliche Wesen muss auf Teile seiner Menschenwürde verzichten, einfach nur deshalb, weil es mit dem Wohlstand der anderen nicht mithalten kann, aus welchen Gründen auch immer.

Bei Kindern und Jugendlichen müssen Sie übrigens nur bis vier zählen; von ihnen sind fast 25 % arm(utsgefährdet). Relativ gering ist der Unterschied zwischen Männern (20,1 %) und Frauen (21,6 %).

Noch zwei letzte Zahlen: Im vergangenen Jahr hatte Deutschland rund 84,5 Millionen Einwohner. Ein Fünftel davon sind 16,9 Millionen.

Eine Frau ist von der Seite zu sehen. Sie sieht nach unten und ihre Haare fallen ins Gesicht, so dass sie nicht zu erkennen ist. Die Szenerie ist dunkel und einsam.
Bild: Eric Ward via Unsplash.

Gut, dass im WERNERPRISE°-Blog (so gut wie) keine Schimpfwörter und Kraftausdrücke verwendet werden, sonst stünde hier gleich eine ganze Reihe von ihnen; viele direkt an den amtierenden Finanzmini­ster Christian Lindner gerichtet, der sich eines geschätzten Vermögens von 5,5 Millionen Euro und dazu eines monatlichen Mini­stergehalts von 20 000 Euro erfreut und allein im Jahr 2021 beim Finanzamt außerdem zusätzliche Nebeneinkünfte von 472 000 Euro angemeldet hat.

Wie heißt das Sprichwort doch so schön: Der Teufel scheißt immer auf den größten Haufen.

Kein Wunder, dass so jemand das Elterngeld kürzen will, die Zuschüsse zur gesetzlichen Renten- und Pflegeversicherung und auch die Mittel der Bundeszentrale für politische Bildung – aber weiterhin rund 65 Milliarden Euro pro Jahr für umwelt- und klimaschädliche Subventionen freigibt, wie das ZDF berichtete.

Kein Wunder auch, dass so jemand sich im staatsgläubigen Deutschland nicht wohl fühlt, wie er sich bei einer Rede vor dem In­stitut für Schweizer Wirtschaftspolitik beklagte. In Richtung seiner Gastgeber sagte der Multimillionär: (…) nachdem die politischen Realitäten mich zwingen, mit Sozialdemokraten und Grünen zu regieren, freue ich mich, die Luft der Freiheit zu atmen.

Ach wissen Sie, Herr Lindner, Sie sind herzlich eingeladen, in der so freiheitlichen Schweiz Ihr Domizil aufzuschlagen. Wir werden Sie hier nicht vermissen.

Zum Ausklang noch ein Link zur er­sten »Late Night« von Sarah Bosetti am 22.10., in der es ebenfalls um das Thema Armut ging. Besonders bemerkenswert war der Auftritt der #TaxMeNow-Mitbegründerin und Millionärin Marlene Engelhorn, die überzeugend darlegte, warum Spenden und andere Benefit-Aktionen seitens der Reichen keine Alternative zu öffentlichen Mitteln sind (weil sie der Willkür Tür und Tor öffnen) und warum sie will, dass sie und ihresgleichen endlich angemessen besteuert werden.

Bitte gucken. Die Aufzeichnung steht in der 3sat-Mediathek.

Letztes Jahr demon­strierten Engelhorn und ihre Mitstreiter beim Weltwirtschaftsforum in Davos. Auch das liegt in der Schweiz. Na, Herr Lindner, nicht doch lieber ein Häuschen dort statt im undankbaren Deutschland?

 

Und er so *freu*.

6 Minuten Lesedauer
Detail-Ansicht der Bronzeplastik von Karl Valentin beim nach ihm benannten Brunnen am Münchner Viktualienmarkt. Das Metall der Statue ist dunkelgrün, in den rechten Arm der Figur hat jemand eine frische, leuchtend gelbe Sonnenblume gelegt.
Karl-Valentin-Brunnen, München
Bild: Amrei-Marie via Wikipedia
Lizenz: CC BY-SA   

Vieles, was auf vielen Coaching-Websites, in vielen, vielen Selbsterfahrungs-Posts auf Social Media und bei vielen Selbst­opti­mie­rungs-Kursen als heilend angeboten wird, ist grober Unfug. Dem Universum ist es egal, was wir uns von ihm wünschen, Engel sind (ähnlich wie wir Menschen) hauptsächlich mit sich selbst beschäftigt, und positives Denken kann sogar negative Folgen haben.

Das heißt aber nicht, dass ein bodenständiger, realitätsverhafteter Ansatz zur psychischen Selbstju­stierung keine gute Idee wäre.

Karl Valentin zum Beispiel, Komiker aus Bayern in der er­sten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts, sagte einmal:

Ich freue mich, wenn es regnet, denn wenn ich mich nicht freue, regnet es auch.

Das ist doch mal eine ausgesprochen gesunde Einstellung, mit den Unbilden und Widerbor­stigkeiten des Lebens umzugehen. Geht ein bisschen in die Richtung des bekannten »Gelassenheitsgebets«, das hier aus athei­stischen Erwägungen leicht gekürzt wiedergegeben werden soll: Es geht darin um die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.

Alte Diagrammzeichnung eines Gesichts mit Gehirnregionen. Zahlreiche englische Begriffe sind darauf eingetragen, wie zum Beispiel »Intellect«, »Affection«, »Volition« oder auch »Truth« und viele andere.
Bild: Alesha Sivartha (Pseudonym von Arthur Merton) via Internet Archive (gemeinfrei).

Natürlich ist es außerdem völlig okay, die eigenen Werte, Selbstbilder und Stolperfallen immer wieder zu hinterfragen und sie durch hilfreichere Erkenntnisse zu ersetzen; auch mit fremder Hilfe. Der Unterschied zu den im er­sten Absatz erwähnten Dingen ist, dass der Ansatz »ich betrachte mich und lerne, mich zu verändern« psychologisch ist; therapeutisch, nicht transzendental. Erprobt, nicht erhofft. Wissenschaftlich, nicht wundergläubig.

Das heißt ganz und gar nicht, dass nicht auch Therapien und Therapeut*innen fehlerbehaftet sein können, wohlgemerkt! Immerhin ist der Begriff »Therapeut*in« gesetzlich nicht geschützt und daher kein Hinweis auf ein erfolgreich abgeschlossenes Studium oder auch nur fachliche Kompetenz, wie die Wikipedia schreibt.

Aber viele, wenn nicht sogar die mei­sten Psychotherapeut*innen (das wiederum ist eine geschützte Berufsbezeichnung, die eine fundierte Ausbildung voraussetzt und verschiedenen Zulassungsverfahren unterliegt) tun ihre Arbeit auf der Basis nachvollziehbarer, wiederholbarer, stati­stisch erfassbarer – kurz: wissenschaftlicher Methoden.

Detail-Ansicht eines alten medizinischen Gesichts- und Gehirnmodells. Die Augen sind geschlossen, die Schädeldecke ist aufgeschnitten. Auf das Gesicht geschrieben stehen verschiedene Begriffe wie »Ortsinn«, »Umfang«, »Individualität« oder auch »Sprache«
Bild: David Matos via Unsplash.

Und sie sind eingebettet in einen größeren wissenschaftlichen Kontext; Erkenntnisse aus der Verhaltensforschung, Neurologie, Biochemie und vielem mehr tragen zum Gesamtbild der menschlichen Psyche und Beschaffenheit bei.

Wenn aber Rhonda Byrne, millionenschwere Autorin des Weltbestsellers The Secret, po­stuliert: Thoughts are more powerful than actions, dann ist das natürlich schlicht riesengroßer Quatsch. Frau Byrne hat sich mehrere goldene Nasen verdient mit dem simplen Versprechen, dass sich Glück, Erfolg, perfekte Beziehungen und dergleichen mehr einfach per Gedankenkraft manife­stieren lassen. Das glauben Menschen natürlich gern.

Jessica Wildfire hat kürzlich darüber geschrieben, was besagtes Buch mit der westlichen Zivilisation angestellt hat (Spoiler: nichts Gutes) und in einem anderen Artikel darauf verwiesen, welches Elend die Idee des »positiven Denkens« in den USA anrichtet (Spoiler: großes).

Beide Texte sind englisch, aber es ist kein übermäßig schwieriges Englisch, und Jessica Wildfire und ihr Blog OK Doomer sind absolut lesenswert – hilfreich kann es sein, bei Unklarheiten die gut trainierte Übersetzungsmaschine DeepL zu Rate zu ziehen. Das ist sehr einfach: Den fraglichen Textblock kopieren, in das linke DeepL-Fen­ster einkopieren, dann rechts die gewünschte Sprache auswählen.

Zurück zum Thema: Dass die »Behandlung« persönlicher, psychischer Probleme mit »Eso-Methoden« für die Betroffenen meist nur scheinbare Besserung bringt, ist schlimm genug – minde­stens ebenso bedenklich ist aber, dass hinter all dem weichgespülten, sanften »Lebenshilfe-Speak« eine milliardenschwere Indu­strie steht. Die er­stens mit menschlicher Verzweiflung gigantische Umsätze erzielt und zweitens Betroffene oft in sektenartige Abhängigkeit führt.

Hier einige Dokumentationen und Reportagen zu dem Thema [Längen in Klammern]:

Photo von »magischen« Gegenständen; Graphiken, ein Knochen, alchemistische Gefäße und ähnliche.
Bild: Asia Lascioli via Unsplash.

Auch in der Politik und im gesellschaftlichen Leben hinterlässt Esoterik mehr und mehr Spuren; schon während der COVID-Maßnahmen zeigte sich, dass Spiritualität sich oft erschreckend dicht in der Nähe von Verschwörungsideologien und rechtsradikalen Strömungen aufhält. (Was vielleicht auch daran liegt, dass Esoterik in der ursprünglichen Bedeutung des Begriffs eine philosophische Lehre ist, wie die Wikipedia schreibt, die nur für einen begrenzten ›inneren‹ Personenkreis zugänglich ist, im Gegensatz zu Exoterik als allgemein zugänglichem Wissen. Daher das Gefühl von Erwähltheit und Überlegenheit vieler esoterisch bewegter Menschen.)

In diesem Frühjahr sprach Alrun Schleiff von der Heinrich Böll Stiftung mit der Autorin Pia Lamberty darüber.

Ach, und falls Sie lieber, statt sich über den Regen zu freuen, wissen wollen, wie Sie ihr Leben am be­sten gestalten, dann bitten Sie doch Hildegard Matheika, für Sie eine Palmblatt-Lesung durchzuführen: Die Palmblatt-Bibliotheken wurden vor ca. 5000 v. Chr., von Rishis geschrieben, Menschen, die die Fähigkeiten hatten in die Akasha-Chronik zu gehen, in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verschmelzen. Und wenn’s dabei ziept: Frau Matheika macht auch Reiki. Und Energieübertragung. Und Rückführung, Reinkarnations»therapie«. Und nimmt Kontakt zum Jenseits auf. Und liest Karten. Und Hände. Auch telephonisch. Oder per Videocall.

Namaste.

Bis auf »Cash & Karma« stammen alle Videos von YouTube, werden hier aber über Invidious mit dem URL-Parameter local=true verlinkt, was bedeutet, dass Google und YouTube Sie nicht tracken können.
Da YouTube häufig versucht, Invidious zu blockieren, funktionieren die Links manchmal nicht; dann können Sie eine andere Invidious-Instanz versuchen (Video 1: redirect.invidious.io/watch?v=BQDKsRs1qdc&local=true, Video 2: redirect.invidious.io/watch?v=ODkYVCuahes&local=true, Video 3: redirect.invidious.io/watch?v=33WwVHb8TkI&local=true, Video 4: redirect.invidious.io/watch?v=n3n6v3x-9-g&local=true, Video 5: redirect.invidious.io/watch?v=QPRdvb0FRY8&local=true, Video 6: redirect.invidious.io/watch?v=lvnGKNFTT30&local=true.

Red’ mit dir!

3 Minuten Lesedauer
Als Mosaik gestaltetes Porträt einer Person mit großen Augen und roten Lippen, viele bunte Muster im Hintergrund. Durch digitale Bildbearbeitung ist das Gesicht gespiegelt, und es wirkt, als spräche es mit sich selbst.
Bild: Giulia May via Unsplash.

Schön ist ja, wie es seit einigen Jahren immer normaler wird zu erleben, dass Leute auf der Straße mit sich selbst sprechen.

Schon klar, meistens ist schlicht der kleine Knopf im Ohr nicht zu sehen, der die Sprechenden mit mobil verknüpften Angesprochenen verbindet. Aber es wirkt, als seien sie tatsächlich im Dialog mit sich selbst. Und der hat einen schlechten Ruf – deswegen ist diese Entwicklung so erfreulich. Weil sie hoffentlich, hoffentlich dazu führt, dass Mit-sich-selbst-Sprechende nicht mehr länger angeguckt werden, als seien sie mental beschädigt oder womöglich gar gefährlich.

Jener schlechte Ruf, den das Selbstgespräch hat, ist nämlich – mindestens teilweise – sehr unberechtigt.

So lange die Person noch von der Außenwelt erreichbar bleibt, so lange der Dialog mit sich selbst also keine Sich-Verschließen vor der Welt bedeutet, ist er ein gutes Hilfsmittel zur Selbstreflexion.

Vor einer Zimmertür ist der Rücken einer Person in schwarzer Kleidung zu sehen, die sich selbst umarmt.
Bild: Hala Al-Asadi via Unsplash.

Das WDR-Wissensmagazin Quarks zum Beispiel schreibt auf seiner Website: (…) Pragmatiker sprechen gut und viel mit sich selbst und können eine Problemlösung zielstrebig angehen.

Und verlinkt eine Studie (PDF-Download) der Psycholinguistin Anke Werani von 2009, in deren Zusammenfassung es heißt: In diesem Artikel wurde gezeigt, wie mit der Methode des lauten Denkens ein Zugang zum inneren Sprechen gefunden werden kann. (…) In konstruktiver, ermutigender und motivierender Form wirkt sich das innere Sprechen überaus positiv auf den Problemlöseprozess und damit die Problemlösegüte aus, es übernimmt Funktionen wie beispielsweise Selbstregulation, Reflexion über die momentane Tätigkeit sowie die eigentliche Problemlösung.

Schon vor Jahren sprach DER SPIEGEL mit der Psychologin Corinna Reichl vom Uniklinikum Heidelberg, und wenn der Artikel auch warnte: In Verbindung mit Einsamkeit können häufige Selbstgespräche ein Risikofaktor sein, so wurde Reichl doch so zitiert: Selbstgespräche sind in einem angemessenen Rahmen ganz und gar nicht schlecht.

Denn, so schreibt das Magazin weiter: Während eines Selbstgesprächs seien im Gehirn die gleichen Regionen aktiv wie bei einem tatsächlichen Dialog. Dies könne zu dem vorübergehenden Gefühl führen, in eine soziale Interaktion eingebunden zu sein

Es gibt der Quellen reichlich mehr, die eine wohltuende, unterstützende Wirkung des inneren Dialogs bestätigen; am schönsten aber bringt es vielleicht das Wissenschaftsmagazin Spektrum auf den Punkt: Schweigen ist Silber, Reden ist Gold.

O Tempora.

3 Minuten Lesedauer
Kopiezeichnung einer Büste von Cicero aus dem Jahr 1885.
Bild: Wikipedia (gemeinfrei).

In diesem Blog werden gelegentlich auch Beiträge erscheinen, die nichts mit dem Beruf des Texters und/oder Webdesigners zu tun haben.

Einen Anfang macht dieser.


Seit dem Jahr 70 v. Chr., in dem der römische Politiker, Anwalt, Schriftsteller und Philosoph Cicero ihn zum ersten Mal verwendete, steht der Ausruf o tempora, o mores! für die Verzweiflung angesichts rapide um sich greifenden Sitten- und Moralverfalls.

Dass seitdem knapp 21 Jahrhunderte vergangen sind, ändert einerseits nichts an der Relevanz des Zitats, und andererseits ist seine Aktualität vielleicht sogar noch gestiegen.

Es begann mit der massenhaften Verbreitung von Smartphones und dem parallel verlaufenden Run auf Soziale Medien ab 2007. Schnell kamen schon damals Befürchtungen auf, die vermeintliche Anonymität im Netz verführe dazu, alle Höflichkeit (und das, was man im Web 1.0 »Netiquette« nannte) fahren zu lassen und schlechte Laune, Frustration und Hass auf andere ungefiltert in die Tastatur zu hacken.

Mit dem Beginn der COVID-19-Pandemie hat die ungezügelte Lust am (Be-)Schimpfen massiv zugenommen, aber noch ein weiteres Phänomen trat an ihre Seite: Die Entweder-Oderisierung des Diskurses.

Frei nach dem angeblich auf Jesus von Nazareth zurückgehenden Satz wer nicht für mich ist, ist gegen mich werden in den vergangenen Jahren immer massivere Fronten aufgebaut. Als wäre die Schraube einige Umdrehungen weiter angezogen, in Richtung der Sure 9:5 des Korans: (…) tötet die Götzendiener, wo immer ihr sie findet, ergreift sie, belagert sie und lauert ihnen aus jedem Hinterhalt auf!

Das riecht arg schweflig nach Mittelalter.

Als hätten wir Menschen in einem gewaltigen Satz rückwärts das Zeitalter der Aufklärung einfach übersprungen.

An dieser Stelle sei ein kurzer Blick nach oben an den Anfang dieser Seite empfohlen, genauer: das Irving-Zitat. Nicht im entferntesten intellektuell sei alles, was mit (religiösem oder sonstigem) Glauben zu tun hat. (Deutsche lesen in den Begriff »intellektuell« gern die sogenannte »höhere Bildung« hinein, aber im Englischen bedeutet es einfach hat mit dem Verstand zu tun).

Menschen handeln und äußern sich dieser Tage immer weniger verstandes-, sondern immer mehr instinktgesteuert, ausgehend von persönlichen Meinungen und Überzeugungen – komme, welch’ anderslautende wissenschaftliche Erkenntnis wolle. Und die »Götzendiener« aus dem Koran-Zitat oben – das sind alle, die anders glauben, fühlen, denken. Oder sind.

Two hands holding one another.
Bild: Ave Calvar via Unsplash.

Es gibt kaum noch Grautöne; die Dinge haben entweder weiß, oder aber schwarz zu sein. Dass es möglich ist, einen Aspekt einer Sache gutzuheißen und einen anderen als falsch zu erachten, dass menschliche Entscheidungen und Handlungen von zahlreichen, unterschiedlichsten Faktoren beeinflusst werden, die sich sogar gegenseitig widersprechen mögen, das scheint nur noch den wenigsten klar zu sein.

Wenn aber etwas für das Überleben der Demokratie absolut unerlässlich ist, dann eben gerade die Fähigkeit zum Sowohl-als-auch, zum Dialog, zum Kompromiss.

Zum Miteinander.

Und die Erkenntnis, dass die eigene Freiheit nur soweit reichen kann, wie sie die Freiheit anderer nicht beschneidet, oder gar erstickt.

Ja, das geht auch – und ganz besonders! – an euch Milliardäre, Millionäre, Erben, Unternehmenslenker, Lobbyisten … kurz: Kapitalisten.

 

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